"Barock" – die bizarre Geschichte eines großen Wortes

Baby aus „schiefen Perlen“: Ein Kurfürst schenkte Ende des 17. Jh.s diese Wiege seiner Frau – als Ausdruck der Sehnsucht nach einem Stammhalter.
Baby aus „schiefen Perlen“: Ein Kurfürst schenkte Ende des 17. Jh.s diese Wiege seiner Frau – als Ausdruck der Sehnsucht nach einem Stammhalter.(c) Studien Verlag
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Was hat "barock" mit Wucher und Perücken, seltsamen Felsen und scholastischer Logik zu tun? Ein Kunsthistoriker folgt den frühen Spuren dieses Wortes – und entdeckt Erstaunliches.

Von „schiefen Perlen“ ist in der Schule ziemlich verlässlich dann die Rede, wenn es um die Barockzeit geht. Da erfahren Generationen von Jugendlichen seit dem 19. Jahrhundert, dass sich die Epochenbezeichnung vom portugiesischen Wort „barroco“ ableitet; und dass dieses ungleichmäßig geformte, „schiefe“, „schiefrunde“ Perlen bezeichne.

So weit, so unklar. Der deutsche Gelehrte Johann Joachim Winckelmann, einer der ersten Aufklärer, die im 18. Jahrhundert zur Überwindung des „Baroquegeschmacks“ aufriefen, war auch maßgeblich für die Verbreitung der Perlenableitung verantwortlich. Er schrieb sie aus einem französischen Wörterbuch ab – setzte allerdings ein „vermutlich“ hinzu. Diese Unsicherheit hat die Kunstgeschichte nie ganz verlassen. Im 19. Jahrhundert wurde aus der abschätzigen Bezeichnung für als bizarr, stilwidrig, abgeschmackt oder „schräg“ empfundene Kunstformen ein – nicht mehr negativer – Epochenbegriff, der von der Kunst auch auf Musik und Literatur übertragen wurde. Die Ursprünge des Wortes allerdings blieben nebulos.

Verwirrende Verästelung. Auf dessen Spuren hat sich der Innsbrucker Kunsthistoriker Markus Neuwirth begeben – so „barock“, so ausladend, assoziationsverspielt und gelehrt, dass einem am Ende erst recht der Kopf schwirren kann. Was haben das portugiesische „barroco“, das italienische „barocco“, das französische „baroque“, das deutsche „barock“ so alles bedeutet, was assoziierten die Menschen damit visuell, bevor es zum strengen Stilbegriff kam? Das will Neuwirth herausfinden.

Viel Zeit muss man sich nehmen für seinen prachtvoll bebilderten Riesenband „Barock. Kunstgeschichte eines Wortes“, will man ihm in alle thematischen Verästelungen folgen.

Dieses Buch, schreibt der Autor eingangs, sei ihm einfach „passiert“. Dass er dem fröhlich wuchernden Eigenleben der Materialien und Ideen einfach folgen musste, kann man aber nachvollziehen, auch dass er sich oft zu waghalsigen Assoziationen verführen lässt, die mehr kunstgeschichtlich inspirieren als wortgeschichtlich informieren; man kann das, weil man selbst beim Lesen auf Schritt und Tritt Faszinierendes entdeckt: zum Beispiel, wie jüdische Juweliere das Wort „barroco“ in die Welt getragen haben könnten; warum auf einer frühen satirischen Landkarte ein Ort „Barock“ direkt neben dem „Credit-“ und dem „Pfandhauser Gebiet“ liegt; wie „barock“ und „Perücke“ zusammengedacht wurden; oder warum ein scholastischer Merkspruch „ba-ro-co“ hieß. Es gibt nicht „die“ Ableitung des Wortes „barock“, weiß man am Ende – sondern mehrere, die sich überlagerten, vermischt.

Die schiefrunde Perle. Warum hat das portugiesische Wort „barroco“, das im Italienischen zum leicht verwechselbaren „barocco“ wurde, international Karriere gemacht? Eine große Rolle spielten vermutlich die sogenannten Neu-Christen, (zwangs)konvertierte Juden, schreibt Neuwirth. Die meisten Gold- und Silberschmiede in Portugal seien Neu-Christen gewesen, und durch deren Vertreibung sei das Wort in Städte wie Antwerpen, Amsterdam und Livorno gekommen. Was die Italiener als „barocco“, die Franzosen als „baroque“ zu bezeichnen begannen, war dem „Bizarren“ sehr nah verwandt – man meinte Exzentrisches, Besonderes, Sonderbares. Die Lust daran blühte im Manierismus des 16. Jahrhunderts; und eine in dieser Strömung angesiedelte Mode, unregelmäßige Perlen zu Preziosen zu verarbeiten, hat vielleicht auch eine Rolle in der Wortgeschichte gespielt. So wie Kinder in Wolken gern Dinge erkennen, spielten die Künstler mit den Launen der Natur: Aus zufälligen Perlenformen wurden Lämmchen, Trauben, eine Maria mit Kind oder ein Baby (s. Bild links). Letzteres schenkte der Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz nach vier kinderlosen Ehejahren seiner Frau; Stammhalter bekam er trotzdem keinen.

Der ausgehöhlte Felsen. Zweierlei steckt im portugiesischen Wort „barroco“: „barro“ für Lehm, Ton, Klumpen, und „roca“ für Felsen. Das Wort hatte neben der Perlen- noch eine andere Bedeutung, es bezeichnete auch bizarr gestaltete Felsen, durch Wasser entstandene Höhlungen. In der Kunstgeschichte hat diese Bedeutung nie eine Rolle gespielt, zu Unrecht, findet Neuwirth. Und zieht Verbindungen zu Kunstwerken, etwa der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane von Francesco Borromini: „Gibt es eine schönere Metapher für die konvex-konkave Fassade als jene eines Felsens, der von der steten Einwirkung fließenden Wassers ein- und ausschwingende Formen erhalten hat?“ Wie passend auch, Zufall oder nicht: Das Bild des formenden Wassers passt zur Bezeichnung für das aus dem Barock entstandene Rokoko – das Wort kommt von „Rocaille“ für eine asymmetrische Muschel.

Wucher und Perücken. Die Wörter „Wucher“ und „barroco“ seien verwandt, ist sich Neuwirth sicher, beide kämen vom lateinischen „verruca“ für „Warze“. Ob das stimmt oder nicht – alte Texte zeigen jedenfalls inhaltliche Assoziationen. In Italien wurde tatsächlich mit „barocco“ Wucher und Betrug bezeichnet, im Deutschen belegt etwa eine satirische Landkarte von 1693 diese Verbindung: Da liegt die Stadt „Barock“ zwischen dem „Credit-“ und dem „Pfandhauser Gebiet“. Die Karte zeugt auch von einer anderen verbreiteten, wohl durch die lautliche Nähe geförderten Assoziation, die etwa in der Kritik an absolutistischen Missständen wiederkehrt: jener von „barock“ und „Perücke“. Barock sei, heißt es da, „eine verwirrte Stadt, ehe sie recht gekämmt wird, allda es Sommer und Winter Haarpuder schneyet“. Auch Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz verwendete das Wort in Angriffen auf den Adel.

Ba-ro-co. Nicht nur Jean-Jacques Rousseau, auch der Kunsthistoriker Benedetto Croce im 20. Jahrhundert leitete „baroque“ von „ba-ro-co“ ab, einem Nonsenswort. Es diente Scholastikern als Merkvers, der das Lernen eines logischen Schlusses erleichtern sollte; jede der Silben stand für einen Teil des Syllogismus. In der Neuzeit bekam „ba-ro-co“ eine negative, spöttische Note, als Ausdruck von „Pfaffenlogik“. Ab und zu wurden die zwei Wörter in Verbindung miteinander gebracht. Etymologisch haben sie aber gar nichts miteinander zu tun.

Zumindest etwas also ist klar inmitten all der faszinierenden Unklarheiten der Wortgeschichte. Markus Neuwirth sieht diese freilich nicht negativ: „Die Unsicherheit in der exakten Zuordnung ist Teil des Sprachspiels, im Variationsreichtum liegt zugleich der Wert des Wortes Barock.“ Ja, eigentlich wirklich schön: So passt das Wort zur Kunst, die es bezeichnet.

Das Buch

„Barock. Kunstgeschichte eines Wortes“ von Markus Neuwirth ist im Studien Verlag erschienen: 368 Seiten, 39,90 Euro.

Markus Neuwirth, geboren 1960, ist ao. Professor für Kunstgeschichte an der Uni Innsbruck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

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