Kurz warnt vor Flächenbrand in EU

EU-RAT IN LUXEMBURG: KURZ
EU-RAT IN LUXEMBURG: KURZ(c) AUSSENMINISTERIUM/DRAGAN TATIC
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Außenminister Kurz drängt nach Brexit auf tief greifende Reformen in der EU. Die Union dürfe sich nicht in Details verlieren, sondern müsse große Fragen wie die Flüchtlingskrise lösen.

Die Presse: Wie lautet Ihre Schadensbewertung nach dem Brexit-Votum?

Sebastian Kurz: Europa ist mit dem Austritt Großbritanniens definitiv wirtschafts-, außen- und sicherheitspolitisch schwächer. Großbritannien hat auch in vielen Fragen den Finger in die Wunden gelegt. Wir brauchen eine tief greifende Veränderung und Erneuerung der EU. Sie muss in Zukunft mehr sein als der Status quo ohne Großbritannien.

Was soll die EU anders machen?

Erstens muss die aktuelle Flüchtlings- und Migrationskrise gelöst werden. Sonst steigt die Zahl der Austrittsbefürworter auch in anderen Ländern. Das war auch Hauptthema beim britischen Referendum. Die Menschen waren deshalb sogar bereit, für einen EU-Austritt die Gefahr eines wirtschaftlichen Schadens in Kauf zu nehmen.

Kann der Brexit nicht auch ein heilsamer Schock sein und sogar eine Vertiefung der EU-Integration einleiten?

Davon halte ich nichts. Es ist nicht sinnvoll, jetzt unüberlegt pauschal auf weitere Vertiefung zu drängen. Die Menschen sind nicht deshalb unzufrieden mit der EU, weil sie nicht vertieft genug ist, sondern, weil sie aktuelle Herausforderungen wie die Immigrationsfrage nicht meistern kann und weil zweitens die Kompetenzen zwischen Regionen, Nationalstaaten und der EU nicht gut genug und sinnvoll abgegrenzt sind.

Hat Brüssel zu viele Kompetenzen?

Wir brauchen ein stärkeres Europa in den großen Fragen wie der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder etwa in der Lösung der Flüchtlingsfrage, aber gleichzeitig ein Europa, das sich in kleineren Fragen wieder zurücknimmt und hier Nationalstaaten oder Regionen entscheiden lässt. Die EU darf sich nicht in Details verlieren, wie der Änderung von Speisenkarten wegen einer Allergenverordnung.

Befürworten Sie die Einberufung eines EU-Konvents, wie dies Belgiens Premier vorschlug?

Wir sollten sehr schnell handeln, den Austritt Großbritanniens und die Verhandlungen über eine weitere Zusammenarbeit rasch abwickeln, damit sich Europa voll auf die Reform des eigenen Systems konzentrieren kann. Ob das in einem Konvent oder einem anderen Format stattfindet, ist sekundär.

Glauben Sie tatsächlich, dass die Briten in zwei Jahren nicht mehr in der EU sind? Oder wird sich dieser Prozess länger hinziehen?

Ich habe gerade an der Sitzung der Außenminister teilgenommen. Einhelliger Tenor war, den Austritt möglichst zügig über die Bühne zu bringen. Denn nur so kann Europa handlungsfähig sein und sich selbst verändern. Wenn wir nicht rasch Veränderungen herbeiführen und aktuelle Krisen lösen, wenn wir nicht mehr Subsidiarität in der EU ermöglichen, wenn wir bei Fehlentwicklungen wie Sozialleistungen bei Migration nicht gegensteuern, wird die EU weiter an Vertrauen verlieren. Dann kann aus dem Referendum in Großbritannien ein Flächenbrand werden.

Die Sonderregelung, die sich Cameron bei der zeitlich befristeten Kürzung von Sozialleistungen für Migranten ausbedungen hat, ist nun hinfällig. Wird sich Österreich trotzdem darauf berufen?

Wir haben diese Vorschläge wie die Kürzung von Familienbeihilfe ins Ausland nie als Ausnahmeregelungen für Großbritannien verstanden, sondern als notwendiges Gegensteuern bei Fehlentwicklungen. Es wäre der vollkommen falsche Ansatz, sie einfach vom Tisch zu wischen. Denn sonst werden wir bald auch anderswo eine immer negativere Stimmung haben.

War es ein Fehler von David Cameron, dieses Referendum anzusetzen?

Ich bin zutiefst unglücklich über den Ausgang des Referendums. Aber wer glaubt, mit Durchhalteparolen und Schönreden von Problemen die Menschen bei der Stange halten zu können, der irrt. Es kann nicht unser Ziel in Europa sein, gegen direkte Demokratie und Mitbestimmung der Bürger zu sein. Es muss unser Ziel sein, eine EU zu schaffen, die so stark und gut aufgestellt ist, dass sie die klare Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.

Dann könnten Sie ja für Referenden in ganz Europa plädieren.

Diese Union braucht die Unterstützung in jedem einzelnen Mitgliedstaat. Wir dürfen nirgendwo die Bevölkerung verlieren.

Wie verändert der Brexit die Statik in der EU?

Natürlich verändern sich die Machtverhältnisse innerhalb der Union, weil eine der drei größten Volkswirtschaften und Mitgliedstaaten die EU verlässt. Doch das ist nicht das größte Problem, das wir derzeit haben. Wir müssen jetzt das Vertrauen der Bevölkerung für die EU zurückgewinnen. Das gelingt nicht, indem man mit Durchhalteparolen arbeitet oder die Populisten verurteilt, sondern nur, indem man mit Taten und der Lösung von Problemen überzeugt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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