Rücktritt vom Austritt: Briten erwägen Möglichkeiten

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Die nächsten Schritte beim Brexit sind völlig unklar. Manche hoffen schon auf eine zweite Chance.

London. Als der scheidende britische Premierminister, David Cameron, am gestrigen Dienstagabend dem EU-Gipfel über die jüngste Kalamität in seinem Heimatland berichtete, konnte er die dringendste Frage nicht beantworten: Wie geht es mit dem britischen EU-Austritt nun weiter? Der prominente Verfassungsjurist Geoffrey Robertson meint angesichts der vollkommen unklaren Lage sogar: „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.“

Cameron erklärte am Montag in der ersten Parlamentssitzung seit dem Referendum: „Wir werden vorerst nicht Artikel 50 ausrufen.“ Diese Bestimmung des EU-Vertrags löst die Austrittsverhandlungen aus und sieht dafür einen Zeitrahmen von zwei Jahren vor. Wann der Schritt erfolgen muss, ist weder nach EU-Recht noch nach britischem Gesetz geregelt. Cameron: „Das ist eine souveräne Entscheidung Großbritanniens, und es wird dem nächsten Premierminister überlassen sein, den richtigen Zeitpunkt dafür zu definieren.“

Der neue Regierungschef wird erst Anfang September im Amt sein, wenn die konservative Partei einen neuen Führer gewählt haben wird, der als Vertreter der stärksten Partei auch Premier wird. Als Favorit gilt Brexit-Anführer Boris Johnson, der seit dem Referendum vor allem für den Verbleib in der EU Stimmung macht: „Selbstverständlich bleiben wir im gemeinsamen Markt“, erklärte er am Montag als Ziel der Verhandlungen mit Brüssel. Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, wies gestern einmal mehr „alle Versuche des Rosinenklaubens“ kategorisch zurück.

Zweites Referendum unwahrscheinlich

Als neuer Premier könnte Johnson versucht sein, sich durch schnelle Neuwahlen ein Mandat der Wähler zu holen. Cameron regiert derzeit mit nur zwölf Stimmen Mehrheit, was einer der Gründe für seine Erpressbarkeit durch die militanten EU-Gegner in seiner Partei war. Für die Parlamentsauflösung braucht Johnson eine Zweidrittel-mehrheit, die angesichts des aktuellen Führungschaos möglich scheint. Neben der Regierung ist auch die Opposition de facto kopflos: Labour-Chef Jeremy Corbyn steht vor einem Misstrauensvotum seiner eigenen Fraktion.

Bis zu den wahrscheinlichen Neuwahlen zieht der Herbst ins Land, und viele Briten werden bereits am eigenen Leib erfahren haben, dass der Brexit schmerzhaft und teuer wird. Der geliebte Sommerurlaub in Südeuropa wurde bereits erheblich kostspieliger. Mehr als 60 Prozent aller Unternehmen erwarten Einbußen, ein Viertel überlegt bereits Entlassungen. Großbritannien hat zwei Jahrzehnte von der Massenarbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung gebraucht. Der umgekehrte Weg wird kürzer sein.

Geht eine Partei in einem derartig veränderten Umfeld mit dem Versprechen eines zweiten Referendums in die Wahl (wie es die Liberaldemokraten schon angekündigt haben) und gewinnt die Mehrheit, hätte sie in den Augen der Briten die Legitimation zu einer neuen Volksabstimmung. Dies bleibt aber dennoch höchst unwahrscheinlich.

Der zweite Weg zur Verhinderung des Brexit führt über das Parlament. Robertson und andere Juristen betonen, dass das Ergebnis der Volksabstimmung rein „beratenden“ Charakter habe und es keine Umsetzungsbestimmungen gebe. „Es ist die Pflicht der Abgeordneten, nach bestem Gewissen zum Wohl des Staates zu entscheiden“, sagt Robertson. „Demokratie in Großbritannien bedeutet, dass die Abgeordneten die letzte Entscheidung treffen müssen.“

„Eine Stimme Mehrheit reicht“

Das mag verfassungsrechtlich stimmen, ein Ignorieren des Referendums bleibt dennoch undenkbar. 650 Abgeordnete werden sich nicht über den Willen von 17,4 Millionen Wählern hinwegsetzen. Tony Travis von der London School of Economics sagt: „Es gibt einen mächtigen Grundsatz in der britischen Demokratie: Eine Stimme Mehrheit reicht.“

Nicht auszuschließen ist aber, dass Artikel 50 nie ausgelöst wird. Manche hoffen, dass stattdessen in Neuverhandlungen eine beiderseits vertretbare Vereinbarung zwischen Brüssel und London gefunden werden kann, die durch eine neuerliche Volksabstimmung legitimiert würde. Dazu müsste die EU aber die britischen Forderungen nach einem Stopp der Personenfreizügigkeit akzeptieren. Bereitschaft dazu ist keine zu erkennen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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