Anfechtung: „Wieso soll es hier auf Missbrauch ankommen?“

(c) APA/HERBERT NEUBAUER
  • Drucken

Die Frage, ob eine konkrete Manipulation von Stimmen nachgewiesen werden muss, dominierte die gestrige Verhandlung vor dem VfGH.

Wien. „Wir haben nicht nur keine Leiche, es riecht nicht mal im Entferntesten nach einer Leiche.“ Mit einer drastischen Metapher versuchten gestern, Mittwoch, die Rechtsanwälte der Grünen und jene der FPÖ, den Verfassungsgerichtshof (VfGH) im Verfahren über die Anfechtung der Bundespräsidentenstichwahl von ihren Argumenten in der vielleicht wichtigsten Frage zu überzeugen. Die da lautet: Reicht es, wenn der Gerichtshof Rechtswidrigkeiten beim Auszählvorgang in relevantem Ausmaß feststellt, oder müsste es auch Hinweise auf konkrete Manipulationen von Stimmen geben?

Es war Georg Bürstmayr, einer der Anwälte der Grünen, der nicht einmal Leichengeruch wahrnahm und damit ein Bild aufgriff, das zuvor Michael Rohregger für die FPÖ gebraucht hatte. Rohregger hatte nach einer Einleitung durch den stark heiseren Anwalt Dieter Böhmdorfer („Ich muss mich für meine Stimme entschuldigen, ich kann's nicht ändern“) das Plädoyer für die Freiheitlichen übernommen und nochmals die Gründe für die Anfechtung erläutert. Für den in der Stichwahl nur knapp unterlegenen Norbert Hofer hatten die Freiheitlichen ja reihenweise Unregelmäßigkeiten beim Auszählen der Briefwahlstimmen aufgelistet. Das Beweisverfahren vorige Woche vor dem VfGH hat selbst für die Grünen-Anwältin Maria Windhager ein „teils buntes, teils grelles, bisweilen durchaus störendes Bild der Praxis der Bezirkswahlbehörden“ ergeben.

„Die Leiche gibt es trotzdem“

Rohregger erinnerte an die Rechtsprechung des VfGH, wonach es für die Aufhebung einer Wahl genügt, wenn Rechtswidrigkeiten von Einfluss auf das Ergebnis sein konnten. Wer die Wahl anficht, muss also keine tatsächlichen Manipulationen nachweisen. Für Rohregger gilt das auch in diesem Verfahren, obwohl kein Zeuge einen Hinweis auf irgendeine Verfälschung des Wahlergebnisses gegeben hat. „Wenn am Boden eine Leiche liegt, aber niemand was gesehen hat, gibt es die Leiche trotzdem.“

Die für den vorerst siegreichen Kandidaten, Alexander Van der Bellen, angerückten Anwälte überraschten mit einem Bekenntnis zur strengen Rechtsprechung des Höchstgerichts. „Sie wird von unserer Seite begrüßt“, sagte Georg Bürstmayr, „der Gerichtshof sollte sie beibehalten.“ Doch im vorliegenden Fall, nach dem beispiellos eingehenden Beweisverfahren vor dem VfGH, müsse die Anfechtung trotzdem abgewiesen werden. Denn, wie Windhager es ausdrückte: Jeder der 67 Zeugen sei befragt worden, ob er irgendwelche Hinweise auf einen Missbrauch wahrgenommen hätte, und keiner hätte auch nur einen diesbezüglichen Verdacht geäußert – auch keiner der 18 von der FPÖ nominierten Mitglieder der Bezirkswahlbehörden. Windhager: „Es kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass Manipulationen in relevantem Ausmaß tatsächlich stattgefunden haben oder stattfinden konnten.“

VfGH-Mitglied Johannes Schnizer stellte die Argumentation der Grünen sehr kritisch auf die Probe. Schnizer erinnerte daran, dass die strenge Rechtsprechung sehr alt sei und auf Hans Kelsen zurückgehe, den Vater der Bundesverfassung, der 1927 Referent am VfGH war. Auch bei der damaligen Entscheidung habe es ein Beweisverfahren – durch Kelsen persönlich – gegeben, und auch damals sei kein Missbrauch festgestellt und trotzdem der Anfechtung stattgegeben worden. „Was unterscheidet diesen Fall von dem hier vorliegenden?“, fragte Schnizer die Anwälte der Grünen. Warum solle es damals nicht auf einen tatsächlichen Missbrauch angekommen sein, aber hier schon? Darauf Windhager: „Wenn nach der praktischen Lebenserfahrung ein Missbrauch auszuschließen ist, dann ist das zu würdigen.“

Relativ breiten Raum widmete der VfGH der Frage, inwiefern Meldungen über Wahlergebnisse schon vor 17 Uhr am Wahlsonntag durchgesickert seien. Auch das hatte die FPÖ in ihrer Wahlanfechtung kritisiert. Der Vertreter der Wahlbehörde, Robert Stein, betonte, dass ausgewählte Medien, die sich zur Sperrfrist 17 Uhr verpflichtet haben, vom Innenministerium am Wahltag mit Ergebnissen versorgt wurden. Es gebe aber auch andere Wege, zu Ergebnissen zu kommen, etwa über die Parteien. Jedenfalls seien auf sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook schon vor Wahlschluss Ergebnisse verbreitet worden. Eine Gemeinde habe zudem vor Wahlschluss schon das lokale Ergebnis auf ihrer Homepage veröffentlicht.

Ergebnisse vorzeitig durchgesickert

Wissen wollten die Richter auch, warum nicht alle Wahllokale gleichzeitig schließen, sodass ein früheres Durchsickern der Ergebnisse verhindert werden kann. Stein erklärte, dass Österreich mit seinen uneinheitlichen Wahlschlüssen (in Vorarlberg etwa schließt das letzte Wahllokal um 13 Uhr) europaweit tatsächlich die Ausnahme sei. Die Variante, dass man trotz unterschiedlicher Schließzeiten erst gleichzeitig zu wählen beginnt, habe es aber schon hierzulande gegeben, bei der Europawahl 1999. Das habe sich aber nicht bewährt, meinte Stein. Es sei schwierig, Wahlbeisitzer zu finden, die so lange warten müssen, um auszuzählen. In Deutschland etwa gebe es einen einheitlichen Wahlschluss. Der habe aber zur Folge, dass es Wahllokale mit größeren Einzugsgebieten geben müsse, während man in Österreich in jedem Dorf seine Stimme abgeben könne.

VfGH-Präsident Holzinger ließ am Ende offen, ob noch einmal öffentlich verhandelt werde. Zuvor seien interne Beratungen nötig. „Ich kann nur betonen“, sagte er, dass der VfGH alles in seiner Macht Stehende tun werde, „um über die Wahlanfechtung innerhalb der Vier-Wochen-Frist zu entscheiden.“ Das würde bedeuten, dass das Erkenntnis des Gerichts spätestens am 6. Juli, also vier Wochen nachdem die FPÖ die Anfechtung eingebracht hat, verkündet wird. Am 8. Juli könnte Alexander Van der Bellen wie geplant als Bundespräsident angelobt werden. Außer natürlich, der VfGH entscheidet, dass die Wahl wiederholt werden muss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.