Wer führt? Wer folgt?

Eine der stärksten Triebkräfte ist der Hunger. Deshalb setzen sich bei Zebras trächtige Weibchen an die Spitze.
Eine der stärksten Triebkräfte ist der Hunger. Deshalb setzen sich bei Zebras trächtige Weibchen an die Spitze.Frans Lanting, Lanting / Mint Images / picturedesk.com
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Auch Tiere haben unterschiedliche Persönlichkeiten, das sichert das Überleben in launischen Umwelten. Und es schlägt auf das Soziale durch.

Wenn man 200 Personen bittet, sich auf einem öffentlichen Platz so fortzubewegen, dass sie immer eine Armeslänge Abstand haben von den Nachbarn, dann formieren sie sich bald in einem Rund um die leer bleibende Mitte: So organisieren sie sich selbst, so tun es auch Schwärme von Fischen, Vögeln oder Insekten. Aber so ist es nicht immer: Wenn man nur drei der 200 instruiert, sich zu einem Ziel am Rand des Platzes zu bewegen, schließen die anderen sich an, nun ist aus der selbst organisierten Bewegung eine von Führung und Gefolge geworden (Phil. Trans. R. Soc B 364, S. 781).

Auch das gibt es in der Natur, dort werden natürlich keine Instruktionen von Experimentatoren erteilt, dort geht oder fliegt oder schwimmt einfach einer voran.

Was für einer? Eine der stärksten Triebkräfte ist der Hunger bzw. Energiebedarf, der sorgt etwa bei Zebras dafür, dass trächtige Weibchen sich an die Spitze der Herden setzen. Anderswo übernehmen in der Not die Erfahrensten: Bei Orcas mobilisieren dann die ältesten Weibchen ihr Gedächtnis – wo war früher Futter? –, der Rest der Gruppe vertraut blind. In wieder anderen Fällen entscheidet der Charakter: Die Wagemutigsten gehen voran, so ist das oft bei Menschen, bei ihnen sind es bisweilen auch schlicht die, die am meisten reden, in die englische Fachliteratur ist das als „babble effect“ eingegangen. Den gibt es im Tierreich eher nicht, aber forschere und zaghaftere Persönlichkeiten gibt es schon auch.

No na, wird jeder Haustierhalter sagen. Aber in der etablierten Biologie wurden lang die Köpfe geschüttelt über die Vorstellung, Tiere hätten einzelne Charakterzüge wie wir, ganze Persönlichkeiten gar: Dauerhaft unterschiedliches Verhalten von Individuen galt allenfalls als eine Art Hintergrundrauschen. Und noch vor 25 Jahren fanden Vorträge wie die von Andrew Shih (UC Davis) auf Biologentagungen gerade noch Raum in der Abteilung „Vermischtes“: Shih hatte etwas an Ambystoma barbouri bemerkt, einem Salamander, der in Wasserlachen jagt und laicht, das ist gefährlich, dort wird auch er gejagt, von Fischen. Deshalb gehen manche Salamander das Risiko selten ein. Andere scheuen die Gefahr nicht, und sie fahren oft besser: Sie machen so viel Beute, dass sie rasch reifen und sich reproduzieren, bevor die Lachen ausgetrocknet sind. Sind sie es, kommen die vorsichtigeren Artgenossen nicht mehr zum Zug (Animal Behaviour 65, S. 29).

Warum gibt es sie dann? Manche Charakterzüge werden Jungen von ihren Müttern eingebaut, man weiß es länger schon von Vögeln: Wenn im Reihergelege der Erste schlüpft und kräftig genug ist, tötet er automatisch – in „obligatorischem Kainismus“ – alle später schlüpfenden Geschwister. Und wenn bei den Kanarienvögeln der Letzte schlüpft, drängt er sich beim Betteln um Futter rücksichtslos vor. Für beides haben die Mütter gesorgt, mit Steroid-hormonen in den Eiern: Das erste Reiherei erhält viel, daher die Aggressivität, die nachfolgenden Geschwister sind nur Reserve für den Fall, dass der Erste zu schwach ist. Und bei den Kanarienvögeln muss der Letzte eben mit den Früheren mithalten können.

Aggressiv vs. friedfertig. In beiden Fällen geht es bei der Variation der Persönlichkeiten um eine Versicherung, eine relativ einfache. Aber die Welt ist kompliziert, es gibt fette Jahre und magere, und es gibt mehr oder weniger dichte Populationen: Sind Meisen etwa in einem Jahr locker gestreut, bringen aggressive mehr Jungen hoch; wird es aber im nächsten Jahr eng, erschöpfen die Kriegerischen sich rasch in Kämpfen, die Friedfertigen profitieren, Nicolaus Dingemanse (München) hat es erhoben und vermutet, dass es in Gesellschaften von Menschen ganz ähnlich zugeht (Ecology Letters 1. 3.).

Und wenn Eichen ein Mastjahr haben, dann fahren auch die Sanftmütigen besser, diesmal die unter den Wildschweinen: Sie bringen dann mehr Junge groß, Sebastian Vetter (Vet-Med Wien) hat es gezeigt (Animal Behaviour 14. 4.).

Aber Mastjahre sind selten, und bei Mangel haben aggressive Mütter mehr Erfolg: Es braucht beide Typen, deshalb schafft die Evolution keinen weg, sondern bleibt balancierend.

Das hat Folgen: Es kann Populationen auseinandertreiben und die Bildung neuer Arten fördern, etwa wenn Scheue sich absondern bzw. weggebissen werden, das zeigen Experimente mit Stichlingen, von denen Alison Bell (University of Illinois) eben auf einer Tagung berichtete (Nature 352, S. 644).

Charaktere helfen aber auch bei der Arbeitsteilung, selbst da, wo man die bzw. Charaktere kaum vermutet, bei Spinnen: Eine soziale Art, Anelosimus studiosus, hat härtere und sanftere Mitglieder, Letztere bauen das Netz, Erstere töten Beute und verjagen Konkurrenz. Jede Kolonie ist in ihrer Zusammensetzung passend für die jeweilige Umwelt komponiert – und leidet, wenn man die Netze anderswo hinhängt, Jonathan Pruitt (UC Santa Barbara) hat es getan (Nature 514, S. 359).

Die Spinnen organisieren wieder sich selbst, bei anderen geht es um Führung und Gefolge: Dann übernehmen meist die Kühneren und Neugierigeren – nicht etwa die in der Gruppe Dominanten –, so ist es bei Zebrafinken (Animal Behaviour 77, S. 1041) und Weißwangengänsen (Animal Behaviour 78, S. 447).

So ist es auf den ersten Blick auch bei Stichlingen, aber bei ihnen zeigen sich dann die Feinheiten: Es geht nicht einfach darum, wer losstürmt, entscheidend ist schon auch, wer hinterhereilt: Menschen schließen sich in Entscheidungsprozessen eher denen an, deren Charakter ihrem eigenen ähnelt. Stichlinge halten es auch so, Shinnosuke Nakayama (Berlin) hat es bemerkt: Er experimentiert länger schon mit diesen Fischen und brachte sie bisher zu zweit zusammen, dann führte der Mutige, und der Scheue folgte, es gab ja keine Wahl.

Deshalb hat Nakayama nun variiert und Dreiergruppen zusammengestellt, mit einem Mutigen und zwei Scheuen oder umgekehrt. Wie wagen die sich aus einer Deckung? Gleich und gleich gesellt sich gern, bei den Scheuen. Die folgten zwar manchmal auch Mutigen, aber nur deshalb, weil die sich viel öfter aus der Deckung trauten (Biology Letters 1. 5.).

Die Mutigen selbst kümmerten sich wenig darum, wer führte und ob es überhaupt jemand tat, sie schwammen einfach drauf los.

(Print-Ausgabe, 24.07.2016)

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