Die Sünden bei der Mindestsicherung

Unter Zeitdruck bei der Reform der Mindestsicherung: Wien-Stadträtin Wehsely, NÖ-Landesrätin Schwarz, Minister Stöger (v. l.).
Unter Zeitdruck bei der Reform der Mindestsicherung: Wien-Stadträtin Wehsely, NÖ-Landesrätin Schwarz, Minister Stöger (v. l.).(c) APA/HELMUT FOHRINGER
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Selbst Kürzungen des Sozialgeldes sind nur wenig Anreiz zur Arbeitsannahme. Seit zwei Jahren sind diverse Schwachstellen bekannt, die Regierung hinkt bei Änderungen nach.

Wien/Innsbruck. Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) mahnt einmal mehr per Zuruf Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, endlich in der ÖVP eine einheitliche Linie bei der Reform der Mindestsicherung zu finden. Die Bundes-ÖVP hält an der Forderung einer Obergrenze von 1500 Euro im Monat für Familien bei der Mindestsicherung fest. Frustrierende Folge: Die überfällige Neuregelung der Mindestsicherung, die an gut eine Viertelmillion Menschen bezahlt wird und in Summe 2014 rund 740 Millionen gekostet hat, ist weiter blockiert.

Zwar läuft nun seit Mai eine Prüfung des Rechnungshofs zur Mindestsicherung in Wien, wo es 2015 mit rund 180.000 die mit Abstand meisten Bezieher gegeben hat (siehe „Presse“-Bericht am Mittwoch). Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) stellt zu dieser Einschau fest: „Das ist absolut nichts Außergewöhnliches, es wurden auch schon andere Bundesländer überprüft.“ Sie bekräftigt außerdem ihren Vorschlag, eine „Wohnsitzauflage“, eine sogenannte Residenzpflicht, einzuführen. Damit würden Flüchtlinge, die Mindestsicherung beziehen, bundesweit aufgeteilt. ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka lehne das ab und wolle „alle lieber nach Wien schicken“.

Das Sündenregister und die Schwachpunkte bei der Mindestsicherung in Österreich sind der Bundesregierung spätestens seit den Prüfungen des Kontrollorgans in den Ländern Tirol und Vorarlberg 2014 bekannt. Seither werden Konsequenzen aufgeschoben. Hier die Probleme im Detail.


Einheitliche Regeln fehlen:Ziel der Einführung der Mindestsicherung ab September 2010 statt der früheren Sozialhilfe waren bundesweit einheitliche Regeln und Auszahlungen. Nicht nur in Tirol und Vorarlberg zeigte sich, dass dies nicht funktioniert. Ein Hauptgrund: Zwar ist ein Viertel des monatlichen Maximalbetrags von derzeit 837 Euro Mindestsicherung für Alleinstehende für Wohnkosten vorgesehen, in Tirol und Vorarlberg wurden jedoch die tatsächlich höheren Wohnkosten finanziert.

• Höhere Auszahlungen
: Durch ein eigens verankertes Verschlechterungsverbot konnte niemand ungünstiger aussteigen, besser schon. So stellte der Rechnungshof in Tirol bis zu 1250 Euro im Monat höhere Auszahlungen fest, in Vorarlberg bis zu 900 Euro. Letztlich wurden für Familien mit mehreren Kindern unter Einrechnung von Kinderbetreuungsgeld und der Familienbeihilfe pro Monat mehr als 4000 Euro im Monat bezahlt. Eine bundesweite Vereinheitlichung ist eines der Hauptziele der spätestens im Herbst für 2017 angepeilten Reform. Die Entwicklung geht in die andere Richtung – bestes Beispiel ist Oberösterreich, wo seit Anfang Juli Verschärfungen gelten.


• Kürzungen kaum Arbeitsanreiz: Bei der Mindestsicherung stand stets im Mittelpunkt, wie groß der Anreiz ist, dann noch arbeiten zu gehen. Nicht einmal die drohende Kürzung der Mindestsicherung stufenweise um die Hälfte bei Arbeitsverweigerung sorgt offenbar für Druck. Der Grund laut Rechnungshof: Der Mindestsatz für Ehepartner und Kinder blieb ebenso wie der „Wohnbedarf“ unangetastet. Bei Familien mit Kindern „waren die Kürzungsmöglichkeiten damit wenig geeignet, einen Anreiz zur Arbeit zu bewirken“.


• Bürokratischer Dschungel: V. a. in Zusammenhang mit dem Fremdenrecht war es für zuständige Bedienstete schwierig, den Vollzug sicherzustellen, denn die „äußerst komplexe und umfassende Rechtsmaterie“ stellte die Sozialbehörden in den Bezirken vor große Probleme. Weder in der 15-A-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern noch in den Erläuterungen fand sich eine Aufzählung, wann Ausländer mit Aufenthaltsrecht in Österreich einen Rechtsanspruch auf Mindestsicherung haben.


• Chaos um Daten:Fehlende Daten hatten nicht nur in den beiden westlichen Bundesländern zur Folge, dass es keine Auswertungen über Folgen der Kürzungen oder auch das Gewähren von Freibeträgen gab. Das lückenhafte Sammeln von Daten begünstigt bis heute ein „Versteckspiel“ der Bundesländer gegenüber dem Bund. Selbst bundesweite Zahlen über Bezieher liegen erst mehr als ein halbes Jahr später vor.


Kostenumverteilung zum Bund: Verbunden mit der Mindestsicherung ist die Krankenversicherung. Deckten die Krankenbeiträge der Länder nicht den tatsächlichen Aufwand der Krankenkassen für Bezieher der Mindestsicherung, so übernahm der Bund die Differenzkosten. Mit dieser Umverteilung wälzten die Länder einen Teil ihrer Kosten in einem Bereich, für den sie zuständig waren, somit auf den Bund ab. Bezeichnend die Kritik des Rechnungshofs: Dieser sah dies „als geradezu exemplarisch für die von ihm aufgezeigte Komplexität und Intransparenz der öffentlichen Haushalte an“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2016)

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