Von Taschenmonstern und Ringelnattern

Ringelnattern sind harmlose Prachtschlangen.
Ringelnattern sind harmlose Prachtschlangen.(c) Ute Woltron
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Frischluftkur. Der derzeitige Pokémon-Go-Hype treibt selbst manch eingefleischten Stubenhocker hinaus ins Freie. Das kann man belächeln, kritisieren, aber auch durchaus positiv sehen.

Die Kinder sind begeistert. Im Garten ist ein Pokémon aufgetaucht. Das müsse eingefangen werden, bevor es ein anderer entdecke, sagen sie und rennen los. Heimvorteil! Die Pokémondichte hier auf dem Land, erfahre ich nach der Pirsch, sei nichts im Vergleich zu jener im Pokémon-Schlaraffenland Wien, wo an jeder Ecke eines dieser virtuellen Geschöpfe quasi im Vorübergehen zu erbeuten sei. Hier geht es über Stock und Stein, in den Wald und auf die Felder bis auf die Hohe Wand hinauf. Insbesondere in lauen Sommernächten sei die Pokémon-Jagd auf den Wiesen und am Waldrand total abenteuerlich und super. Sollten Sie keine Ahnung haben, wovon die Rede ist: Es handelt sich um ein Spiel, das Virtualität mit Realität vermischt. Die kleinen Fantasiewesen – Pokémon bedeutet Taschenmonster – sind nur via App-Landkarte auf dem Mobiltelefon zu erblicken, sie müssen eingefangen, trainiert, getauscht und in virtuellen Arenen in Kämpfe geschickt werden. Das passiert alles draußen im Freien. Pluspunkt!

Kulturpessimisten beuteln trotzdem erschüttert die Köpfe und sehen wieder einmal den Untergang des Abendlandes herabdämmern, doch scheucht die Pokémon-Jagd zumindest so manchen chronischen Computerhocker hinaus ins Abenteuer. Gut so, bewegt die verfettenden Wadeln, Kinder, lasst Frischluft in eure Stubenhockerlungen strömen und erblickt die Gegenwelt der freien Natur. Das kann aufregend, ja vielleicht sogar der Anfang der Erkenntnis sein, dass die Welt nicht nur aus Straßen und Häusern besteht.

Außerdem wären auch wir, bitte geben wir das doch zu, als Kinder begeisterte Pokémon-Fänger gewesen, ganz sicher. Wir hatten aber nur echte Beutetiere, wie Schmetterlinge, Frösche, Forellen, Vögel, Ringelnattern. Gefühlsmäßig neige ich also der Pokémonjagd eher zu als beispielsweise dem Aufspießen der letzten verbliebenen Falter, dieser armen Geschöpfe, denen man den Lebensraum weitgehend gestohlen hat. Forellenfangen, ob mit Fliege (anstrengend), Wurm (schnellste Methode) oder bloßen Händen (Königsdisziplin, nur mit viel Übung und Geschick erfolgsgekrönt), wird entweder empfindlich bestraft oder erfolgt gegen Bezahlung in Reservaten. Wildfischen wurde zwar auch früher geahndet, aber es war viel einfacher, sich nicht erwischen zu lassen.

Vor Ringelnattern wiederum, diesen herrlichen Geschöpfen, fürchtet sich nicht nur die junge Generation, weil heutzutage kein Mensch mehr die harmlose Prachtschlange von einer Blindschleiche unterscheiden kann. Außerdem – wer trifft schon auf Ringelnattern? Auch das Zielschießen mit Kaulquappenköpfen mittels Zeigefinger-Daumen-Quetschens am Schwanzende scheint mir scheußlich und zu Recht aus der Mode gekommen. Die Mutprobe, einen Flusskrebs zu fangen, indem man erst die Krebslöcher am Ufer findet, dann den Arm bis zum Ellbogen unter Wasser in diese unheimliche Schlammschwärze steckt, um sich vom schließlich ertasteten, doch zurecht wehrhaften Krebs ordentlich zwicken zu lassen, fällt ebenfalls mangels Flusskrebsen weg. Eine eingeschleppte Seuche hat fast alle von ihnen hinweggerafft. Sehr betrüblich.

Hühnerhypnotisieren

Auch der schöne Sport des Hühnerhypnotisierens geriet in Vergessenheit. Zumindest der könnte jedoch angesichts der sich in jüngster Zeit mehrenden Hühnerhalter sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gegenden wiederaufleben. Falls Interesse besteht: Huhn einfangen – was sich garantiert als um einiges schwieriger gestalten wird, als Hühnernovizen annehmen –, das Huhn fachgerecht mit beiden Händen so ergreifen, dass die Flügel geschützt sind, und zuvor schon bedenken, dass Hühner sehr, sehr starke Vögel sind. Dann wird das Hendl mit energischer Kippbewegung auf den Rücken gelegt. Mit der flachen Hand führt man sodann Kreisbewegungen über dem Kopf aus. Sehr bald kann man das mit der anderen Hand fixierte Huhn langsam loslassen. Es wird erstaunlich lang liegen bleiben.

Falls irgendwelche Tierschützer geschockt in Atemnot geraten: Noch nie gab es ein nach der Hypnose traumatisiertes Huhn. Falls chronische Pokémon-Go-Verachter bis hierher durchgehalten haben: Vielleicht habt ihr ja recht, und ich irre. Dennoch will mir scheinen, dass praktisch alles, was zusehends verfettende, bewegungsuntaugliche Kinder heute ins Freie und in die Bewegung katapultiert, begrüßenswert ist. Erfolglos blieb seinerzeit übrigens nur unsere Vogeljagd. Die Falle bestand aus einem großen Malersieb, einem dieses lose stützenden Holzstecken samt ins Versteck führender Schnur und Kanarienvogelfutter als Lockmittel. Das Auf-der-Lauer-Liegen war aber meistens so lustig, dass die Vögel lieber einen weiten Bogen um unser Gelächter flogen.

Lexikon

Schmetterlinge. Die Hälfte der heimischen Tagfalterarten und etwa 600 Nachtfalterarten gelten als gefährdet. Alle Tagfalter und 800 Nachtfalterarten werden laut Naturschutzbund auf der Roten Liste geführt.

Ringelnattern.Österreichs häufigste Schlange ist harmlos, in der Nähe von Gewässern anzutreffen und an den beiden auffälligen gelben Nackenflecken leicht zu erkennen.

Edelkrebse. Früher noch allerorten anzutreffen, gilt der empfindliche Edelkrebs auch aufgrund der aus den USA eingeschleppten Krebspest in Fließgewässern als Rarität und steht unter strengstem Schutz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2016)

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