Christian Kern: Die ersten 100 Tage

BK KERN IN DEUTSCHLAND: KERN / MERKEL
BK KERN IN DEUTSCHLAND: KERN / MERKELAPA/BKA/ANDY WENZEL
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Eine Schonfrist sind die ersten hundert Tage im Amt für einen Politiker schon längst nicht mehr. Wohl aber eine Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen.

1. Tag: Christian Kern startet am 17. Mai mit einem Paukenschlag. In einer viel beachteten Rede setzt er zum Rundumschlag gegenüber der bisherigen Regierungspolitik an, verspricht eine neue Form der Regierungszusammenarbeit, einen New Deal für Österreichs Wirtschaft und einen Reformprozess, der innerhalb weniger Monate Resultate zeigen soll. Kern kommt in der Öffentlichkeit gut an – und weckt gleichzeitig Erwartungen, die auch einmal zur Hypothek werden können.


3. Tag: Kern präsentiert sein Regierungsteam mit drei neuen Ministern und einer Staatssekretärin im Parlament. Josef Ostermayer, engster Vertrauter seines Vorgängers Werner Faymann, ist nicht mehr dabei, als Signal für den linken Parteiflügel bekommt Muna Duzdar ein Staatssekretariat. Die Begrüßung ist auch im Parlament recht freundlich.


6. Tag: Alexander Van der Bellen gewinnt die Hofburg-Stichwahl, Kern hatte angekündigt, den früheren Parteichef der Grünen wählen zu wollen. Präsident wird er (vorerst?) trotzdem nicht, da der Verfassungsgerichtshof einige Wochen später eine Wiederholung der Stichwahl anordnet. Das Höchstgerichtsurteil sei „zur Kenntnis zu nehmen“, sagt Kern.


8. Tag: Kern kündigt nach dem Ministerrat erste Reformschwerpunkte an: Arbeitsgruppen sollen für die fünf Schwerpunkte Bildung, Integration und Sicherheit, Arbeitsmarkt und Forschung „in den nächsten Monaten“ konkrete Projekte erarbeiten.


11. Tag: Meinungsumfragen zeigen, dass Kern in der Öffentlichkeit gut ankommt. Beim APA-Vertrauensindex erreicht er gleich den zweitbesten Wert aller Regierungsmitglieder nach Außenminister Sebastian Kurz. Weitere Umfragen bestätigen das Bild: Kern schneidet bei der Kanzlerfrage gut ab, seine Partei, die SPÖ, kann von diesem Stimmungsbild allerdings noch nicht wirklich profitieren.


19. Tag: Christian Kern zeigt auf dem Landesparteitag der Kärntner SPÖ, dass er der traditionellen Linie der Sozialdemokratie treu bleiben will: Er fordert eine Arbeitszeitverkürzung und die Einführung der Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung der Sozialsysteme. Spätestens damit ist auch der Schmusekurs in der Koalition beendet, die ÖVP beginnt sich auf den Kanzler einzuschießen.


24. Tag: Die Bestellung der neuen Rechnungshof-Präsidentin, Margit Kraker, ist ebenso wenig ein Beispiel für eine neue Form des Regierens. Die ÖVP setzt ihre Parteikandidatin durch, Kern, der lieber eine unabhängige Persönlichkeit in dieser Position gehabt hätte, kann nur noch verärgerte Kommentare abgeben.


37. Tag: Der Bundeskanzler absolviert seinen Antrittsbesuch bei Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Auf der europäischen Bühne ist der Kanzler aber noch nicht angekommen, europapolitische Initiativen sind bisher spärlich gesät. Aber auch Vorgänger Werner Faymann hat die europäische Bühne erst spät für sich entdeckt. Kern fehle schlicht noch das Netzwerk in den großen EU-Ländern und in der europäischen Sozialdemokratie, meinen Beobachter.


40. Tag: Christian Kern wird nun auch formal SPÖ-Chef. Die Parteibasis bereitet ihrem neuen Vorsitzenden einen freundlichen Empfang und wählt ihn mit 96,8 Prozent. Sogar die Parteijugend verzichtet auf ihre traditionellen Proteste. Kern bedankt sich, indem er der Basis schmeichelt – und er fordert den Mut zur Veränderung ein.


50. Tag: Der Ministerrat beschließt als erste echte Reform im Wirtschaftsbereich ein Start-up-Paket: Für innovative Jungunternehmen gibt es Lohnsubventionen und Förderungen für Investitionen. Gleichzeitig werden größere Reformen für den Herbst angekündigt. Bis dahin soll die Gewerbeordnung entrümpelt werden.


53. Tag: Christian Kern trifft sich mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Viel mehr als ein höflicher Gedankenaustausch unter Parteichefs ist es nicht. Kern behält die Linie seiner Vorgänger bei: keine Koalition mit den Freiheitlichen. Allerdings nicht mehr als dogmatisch formulierte Position, sondern in einer abgemilderten Version, die Spielraum für Veränderung lässt: Die SPÖ wird einen „Kriterienkatalog“ beschließen, der bestimmt, wer für eine Zusammenarbeit auf Regierungsebene infrage kommt.


57. Tag: Der Ministerrat beschließt die Reduktion der Bankenabgabe. Die Abschlagszahlung der Kreditinstitute, eine Milliarde Euro, soll in den Ausbau von Ganztagsschulen investiert werden. Darüber ist sich die Koalition einig, nicht aber über die Interpretation, was mit dem Geld tatsächlich gemacht wird. Die ÖVP will damit nicht nur die Ganztagsschulen finanzieren, sondern auch andere Formen der Nachmittagsbetreuung.


70. Tag: Besuch beim ungarischen Regierungschef Viktor Orbán in Budapest. Die Mission ist heikel: Kern hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Nachbarn verärgert, als er die Asylpolitik Ungarns kritisiert hatte. Beim Besuch werden zumindest atmosphärisch die Wogen geglättet. Man habe „ein neues Kapitel der bilateralen Beziehungen aufgeschlagen“, heißt es danach. Die Differenzen in der Flüchtlingspolitik bleiben aber bestehen, vor allem in puncto Rücknahme von Asylwerbern.


79. Tag:
Christian Kern setzt ein außenpolitisches Ausrufezeichen, das aber innenpolitisch motiviert ist: Seine auch in Europa viel beachtete Forderung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, ist ein Signal, dass die SPÖ populistischen Aktivitäten der Freiheitlichen Partei und eines von Sebastian Kurz angeführten konservativen ÖVP-Flügels etwas entgegensetzen will. Beim Zielpublikum daheim kommt die Kern-Forderung gut an, in der Europapolitik weniger.


91. Tag: Christian Kern deklariert sich in der Flüchtlingsfrage. Während andere in der Partei bei der Notverordnung auf Abwarten setzen und diese aktuell nicht für notwendig halten, hält Kern einen Beschluss bereits am 6. September für möglich. Allerdings mit einer gewichtigen Einschränkung: Zuvor müsse es ein Abkommen mit Ungarn geben, wonach der Nachbarstaat abgewiesene Flüchtlinge auch tatsächlich zurücknimmt. Eine Forderung an den Innenminister, die nur schwer zu erfüllen ist. Generell bleibt Kern in der Flüchtlingsfrage aber auf jener Linie, die bereits Werner Faymann vorgegeben hat und die den linken Parteiflügel zum Putsch gegen den ungeliebten Vorgänger veranlasst hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2016)

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