Bis jetzt wollte es Christian Kern allen recht machen. In der heiklen Flüchtlingsfrage gelang ihm das bisher sogar. Die Entscheidung zu Ceta bringt ihn nun aber erstmals in Konflikt mit der eigenen Partei.
Am Freitagnachmittag spielte es sich ab, auf der Facebook-Seite von Christian Kern. „Verräter! Judas!“ stand da, „RIP SPÖ. Tschüss baba“, „Alle Hoffnungen enttäuscht“, „Wenn Sie das unterschreiben, trete ich aus“, oder – als wohl ultimative Form der Beleidigung – „Langsam wünsch ich mir den Faymann wieder zurück“.
Es war ein ansehnliches Potpourri des österreichischen Linkspopulismus – darunter viele Poster mit Van-der-Bellen-Sticker am Profilbild –, die da ihrem Ärger über die Entscheidung der SPÖ zu Ceta auf der Kanzler-Seite Luft machten. Zuvor hatte Christian Kern mehr oder weniger im Alleingang die Haltung zu Ceta bestimmt: Die SPÖ werde zustimmen. Eine Abstimmung gab es nicht.
Der SPÖ-Vorsitzende hat als Kanzler entschieden. Man kann das durchaus mutig nennen. Denn Kern hat sich damit nun auch Gegner – jedenfalls in der Causa Ceta – aufgehalst, die schon anderen Parteichefs wie Werner Faymann oder Alfred Gusenbauer das Leben schwer gemacht haben: die Gewerkschafter von der FSG, die Jusos von der Sozialistischen Jugend und den roten Studentenvertretern und nicht zuletzt Teile der SPÖ-Basis. Der Widerstand gegen Ceta war insbesondere von den SPÖ-Landesgruppen getragen worden. Und es war ein SPÖ-Bürgermeister, Herbert Thumpser aus Traisen, der ein Volksbegehren gegen Freihandelsabkommen initiierte, das im Jänner zur Unterschrift aufliegt.
Doch nicht nur von links geriet Christian Kern unter Druck, auch von rechts zog in dieser Woche Ungemach herauf. Der Wiener Stadtrat Michael Ludwig, Anführer der Realo-Fraktion in der Wiener SPÖ, trat – für ihn eher ungewöhnlich – polternd an die Öffentlichkeit und beklagte, dass er als Mitglied der Findungskommission aus den Medien erfahren müsse, wen der Kanzler zur neuen Leiterin des Karl-Renner-Instituts, der Parteiakademie, zu machen gedenke. Auch das scheint Kern im Alleingang entschieden zu haben. Maria Maltschnig wird diesen Posten bekommen, Kerns bisherige Kabinettschefin, die schon bei den ÖBB seine Vorstandsassistentin war. Für Ludwig, so hieß es, sei Maltschnig, deren Schwester die kritische Sektion 8 leitet, zu links. Und nicht nur für ihn. Öffentliche Unterstützung bekam Ludwig vom ehemaligen Wiener SPÖ-Landesparteisekretär Christian Deutsch.
Ludwig – wie auch die Vertreter der Flächenbezirke in der Wiener Partei – eher der alten Faymann-Seilschaft zuzurechnen, hätte dem Vernehmen nach einen anderen für die Leitung des Renner-Instituts im Auge gehabt: Gerhard Schmid, Bundesgeschäftsführer der SPÖ unter Werner Faymann.
Ceta – auch Faymanns Erbe. Wobei auch die Ceta-Sache gewissermaßen noch ein Erbe Werner Faymanns war: Die vorherige SPÖ-Führung hat das Thema Freihandel, das für zunehmenden Unmut an der Basis sorgte, lang liegen gelassen, in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst lösen werde. Im Falle von TTIP war es dann auch so. Selbst die ÖVP denkt nicht mehr daran, das umzusetzen.
Beim „sanfteren“ Freihandelsabkommen Ceta sah es aber anders aus. Und da der Beschluss unaufhaltsam näherrückte, sah sich der neue Parteichef Kern letztlich zum Handeln gezwungen. Und verfiel auf die – nicht gerade glückliche – Idee einer Mitgliederbefragung (inklusive Suggestivfragen), um so den Wind aus den Segeln zu bekommen.
88 Prozent stimmten gegen Ceta. Diese wurden dann am Freitag von Kern mit der Autorität des Kanzlers overruled. Wiewohl er den Gesinnungswandel durchaus argumentativ unterfütterte: Dem Verhandlungstext sei ein „Beipackzettel“ hinzugefügt worden, noch dazu ein rechtsverbindlicher, mit dem die Bedenken der Kritiker noch einmal zerstreut werden. Auch die umstrittenen Schiedsgerichte müssten nun noch eine Runde durch die nationalen Parlamente drehen.
Letztlich blieb jedoch der Eindruck hängen, dass Kern hier die Ceta-Gegner einfach überfahren hat. SJ-Chefin Julia Herr beklagte sich, dass keine Abstimmung im Präsidium stattgefunden habe. Allerdings: Dafür hätte der Parteivorstand einberufen werden müssen. Und der Unmut hielt auch gestern an: Von der „enttäuschten“ FSG Salzburg bis zu Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl, der sich „weiter skeptisch“ zeigte.
Innerhalb einer Woche hat es sich Christian Kern also mit links und rechts in seiner Partei verscherzt. Dabei war er bisher so darauf bedacht gewesen, es allen recht zu machen. Und dies gelang ihm auch: In der heiklen Flüchtlingsfrage eckte er in der Partei kaum an, obwohl er den gleichen Kurs wie Faymann verfolgte, der nicht zuletzt deswegen seinen Posten verlor.
Kerns Taktik war bislang aufgegangen: Ein bisschen rechts blinken – Ja zu Obergrenze und Notverordnung, Merkels „Wir schaffen das“ sei überholt. Und ein bisschen links blinken – Maschinensteuer, Kritik an Konzernen, die keine Steuern zahlen, die Forderung nach einer Abkehr vom Sparkurs in der Europäischen Union.
Wegen Ceta ist der Honeymoon zwischen Christian Kern und seiner Partei nun vorerst vorbei.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2016)