Die Charta steht auf einer Ebene mit der österreichischen Verfassung, stellt das Gericht fest. Künftig dient sie als Maßstab für neue Gesetze.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat eine richtungsweisende Grundsatzentscheidung getroffen: In Verfahren, in denen Unionsrecht eine Rolle spielt, ist die Grundrechtecharta der EU wie die Verfassung zu sehen. Der VfGH kann also wegen einer Verletzung der Charta angerufen werden - und er kann Gesetze aufheben, die zu ihr im Widerspruch stehen.
Die EU-Grundrechtscharta trat am 1. Dezember 2009 - mit dem Vertrag von Lissabon - in Kraft. Sie garantiert den EU-Bürgern eine Reihe einklagbarer Rechte - neben den klassischen Grund- und Freiheitsrechten aus der Menschenrechtskonvention auch soziale Grundrechte oder die Verpflichtung der EU zum Umweltschutz. Dies gilt in vollem Umfang für die EU-Institutionen, die Mitgliedsstaaten müssen sie nur bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht beachten. EU-Recht - etwa in Form von Richtlinien - spielt mittlerweile aber eine große Rolle in Österreich - vor allem im Asyl-, Aufenthalts-, Wirtschafts- und Steuerrecht.
Die Entscheidung des VfGH sei ein "Meilenstein in der Entwicklung der Grundrechte-Judikatur", sagte der Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk am Freitag. Sie bewirke - im Kombination mit Verfassung und Menschenrechtskonvention - einen nun so gut wie "vollständigen Grundrechtsschutz".
Grundrechte dienen nun als Prüfungsmaßstab
Mit der VfGH-Entscheidung sind die EU-Grundrechte nun verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte. Sie können beim Höchstgericht eingeklagt werden. Den Verfassungsrichtern dienen sie als Prüfungsmaßstab, etwa für neue Gesetze in Österreich. Der VfGH kann künftig Behördenentscheidungen und Gesetze wegen Verstoßes gegen die Charta als "verfassungswidrig" aufheben. Behörden, aber auch der Gesetzgeber haben "die EU-Grundrechte-Charta gleichsam als Teil der Verfassung zu berücksichtigen", stellt der VfGH in seinem Entscheid fest.
Seine Entscheidung wird der VfGH ohne Befassung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) treffen, "wenn er zweifelsfrei dazu in der Lage ist". Haben die Verfassungsrichter Zweifel an der Auslegung der Charta, werden sie sich an den EuGH wenden.
Anlass für diese Grundsatzentscheidung waren Beschwerden gegen Entscheidungen des Asylgerichtshofes, die bemängelten, dass keine mündliche Verhandlung durchgeführt worden war. Sie wurden abgewiesen, weil die Grundrechtecharta nicht verletzt wurde.