Der Schüler Wille geschehe: In der Demokratie der Kinder

Sanft. An demokratischen Sudbury-Schulen wird niemand zum Lernen gezwungen. Im rauen Leben kommen Absolventen trotzdem zurecht.

Berlin. Auf dem Gebäude in Berlin-Pankow steht tatsächlich Schule drauf. Genauer: Ting-Schule. Aber ist da auch Schule drin? Sicher, es gibt dort Schüler, zwischen fünf und 17 Jahren. Aber sie sitzen in keinen Klassen, sie haben keinen Stundenplan und keine fixen Fächer. Es gibt keine Noten und keine Zeugnisse. Die anwesenden Erwachsenen, die ein Laie für Lehrer halten könnte, nennen sich „Mitarbeiter“. Sie haben nicht mehr Rechte als die Kinder, und wenn die Schüler unzufrieden mit ihnen sind, fliegen sie raus.

Das klingt, als hätte es Pippi Langstrumpf ersonnen, nach einer wilden Kinderfantasie. Und doch gibt es sie, die demokratischen Privatschulen. Wenn auch nicht oft: In ihrer reinen Form, als Sudbury-Schule, etwa 40 Mal auf der Welt, zwei in Deutschland. Neben der Ting-Schule beruft sich auch die von der Sängerin Nena mitbegründete Freie Schule Hamburg auf die Ideale der Sudbury Valley School in Massachusetts. Einige andere Projekte kommen der reinen Lehre nahe, verzichten aber auf das umstrittene Etikett.

Kuscheln statt kuschen

Denn was sich an diesen Enklaven der schülerischen Freiheit und Selbstbestimmung abspielt, ist eine Provokation für die Lehrkräfte und Pädagogen ringsum. Jeder macht, wonach ihm gerade der Sinn steht: vor sich hin träumen, Mangas zeichnen, Computer spielen, eine Geige zupfen, einem Ball nachlaufen oder ein chemisches Experiment ausprobieren. Und zuweilen auch rechnen und Vokabel lernen. Doch nicht einmal der Anstoß dazu geht von Lehrer oder Lehrbuch aus, alles beruht auf Eigeninitiative. Oft unterrichten die älteren Schüler die jüngeren, oder sie ziehen einen externen Fachmann hinzu.

Die Idee dahinter, die im Prinzip auch von vielen Hirnforschern geteilt wird: Man lernt nur, wenn man es wirklich will, sich den Stoff selbst erarbeitet und kreativ einsetzt. Beim aufgezwungenen Frontalunterricht aber bleibt zu wenig hängen: Man lernt die Dinge auswendig, aber verinnerlicht sie nicht, und wirft sie nach bestandener Prüfung auf den neuronalen Müllplatz des Vergessens.

Aber wie soll denn das funktionieren, wenn jeder einfach seinen Launen folgt? Herrscht dann nicht Chaos, Anarchie, das zweifelhafte Recht der Lauten und Starken? Das Geheimnis der demokratischen Schulen ist, dass sie keineswegs auf Regeln verzichten. Sie haben sogar weit mehr Regeln als konventionelle Lehranstalten, fein säuberlich festgehalten in Ordnern mit Gesetzeskraft. Von wegen Laisser-faire. Aber die Regeln haben sich die Schüler selbst gegeben, in Schulversammlungen, die einmal wöchentlich stattfinden. Dort setzen sie gemeinsam die Grenzen, die sie für ein gedeihliches Zusammenleben als nötig erachten. Wer dagegen verstößt, wird vom Justizkomitee auf den rechten Weg zurückgewiesen – mit Strafen.

Radau an Nenas „Freier Schule“

Nicht immer gelingt diese Basisdemokratie der Kinder. Nenas Schule in Hamburg kam bald nach ihrer Gründung in die Schlagzeilen: Von Gewalt, Mobbing und Diebstahl war die Rede, von hilflosen Lehrern und frustrierten Eltern, die ihre Kinder eilig abmelden. Die Apologeten hingegen beeilten sich, den ganz speziellen Fehler zu finden: Mit 85 Kindern habe die Schule viel zu groß gestartet. Man müsse es viel kleiner angehen, die Strukturen sich erst langsam festigen lassen.

Das Beispiel zeigt: Für den Regelschulbetrieb ist das Sudbury-Konzept zu aufwendig und zu teuer. Und es bleibt ein Unbehagen: Werden nicht gerade die Kleinsten mit der ihnen aufgebürdeten Autonomie hoffnungslos überfordert? Scheitern die älteren Schüler nicht, wenn sie in die raue Wirklichkeit von Wettbewerb und Konkurrenzdruck entlassen werden? Sicher, wenn der Abschluss naht, den sie an einer Regelschule erwerben müssen, holt sie diese Realität ein.

Die Sudbury-Anhänger sehen darin kein Problem: Ihre Schüler, sind sie überzeugt, lernen ja viel schneller, weil es ihnen Spaß macht. Manche können eben schon mit fünf Jahren lesen, andere erst mit zehn, aber am Ende der Schulzeit dann doch alle. Wer eine Matura will, wird sich schließlich voll Energie und hoch motiviert darauf vorbereiten. Und so könnten die selbstbestimmten Jugendlichen flugs nachholen, was sie davor dem staatlichen Lehrplan nach versäumt haben.

Versuchslabor für Regelschulen

Studien darüber, wie sich demokratisch erzogene Schüler im Leben bewähren, gibt es, schon wegen der kleinen Fallzahl, kaum. Nur die Absolventen der namensgebenden ersten Sudbury-Schule in den USA haben Forscher weiter beobachtet. Es heißt, sie hätten ihren Weg gemacht, auffallend viele als Akademiker und Unternehmer.

Dennoch hält das Gros der Erziehungswissenschaftler wenig vom Extrem der völligen Lernfreiheit – so wenig wie von dem einer rigorosen Disziplin. Freilich wünschen sich manche, die Behörden mögen öfter über ihren Schatten springen und solche Initiativen genehmigen, erst als Schulversuch und später als „Ersatzschule“. Denn für vieles, was in Regelschulen nicht mehr tabu ist, vom Projektunterricht bis zum altersübergreifenden Lernen, kommen die Anregungen aus der kleinen Ecke des demokratischen Utopia.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.