Wegwerf-Wissen: Bildung contra Turboschule

(c) Die Presse (Teresa Zötl)
  • Drucken

Das Schulsystem stopfe die Kinder voll mit Wegwerf-Wissen, kritisiert der deutsche Soziologe Fritz Reheis. Das führe zu Stress und Langeweile. Der Experte fordert daher Reform-Pädagogik für alle Schulen.

Wien. Fritz Reheis weiß wovon er spricht: über 20 Jahre hat er an deutschen Gymnasien unterrichtet, heute lehrt er an der Uni Bamberg Bildungssoziologie. In seinem Buch „Bildung contra Turboschule!“ kommt er zu einem ernüchternden Befund: das Schulsystem versäume zu vermitteln, was die Schüler in der Zukunft bräuchten. Und es mache krank.

„Wir betreiben Schule als Turboschule. Dabei wird der Versuch gemacht, Wissen mit hohem Druck in die Köpfe der Kinder hineinzupressen – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste,“ sagt Reheis. Ob dieses Wissen haften bleibe, ob die Schüler es in einen Zusammenhang stellen könnten – all das interessiere nicht. „So verlernen Kinder das Nachfragen.“ Die Folge: Schüler versuchten nur mehr zu funktionieren. Das führe einerseits zu Stress – andererseits zu Langeweile.

Und diese Form von Schule mache krank. Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Magersucht seien die Folge, aber auch Selbstverstümmelungen und Aggression. Das hätten kürzlich die Finnen angesichts eines Amok laufenden und tötenden Schülers wieder einmal schmerzlich zur Kenntnis nehmen müssen, so Reheis.

Kritikfähigkeit lehren

Kindern werde sukzessive die Freude am Lernen genommen – anstatt das Feuer der Wissbegierde zu entfachen. Wer den Mädchen und Buben zu früh zu viel abverlange und das auch noch unter Druck, zerstöre den Drang zu lernen. Positive Anregungen dagegen würden den Kindern helfen, sich zu entfalten. „Wir könnten natürlich sagen, dass diese Turboschule gut zur Turbogesellschaft passt“, sagt der Experte. Im Gesundheitsbereich, in der Arbeitswelt werde ähnlich schlecht mit Zeit umgegangen. „Alles muss immer schneller werden, um die Konsequenzen kümmern wir uns nicht.“

Sicher sei Schule dazu da, um später den Anforderungen des Berufslebens gerecht zu werden. Allerdings sollten diese Anforderungen „auch kritisch hinterfragt werden“. Und darauf bereite Schule heute nicht vor. Denn dazu müsste sie Selbstbestimmung fördern.

90 statt 45 Minuten

Die Tendenz gehe sogar schon dahin, auch den Uni-Betrieb zu verschulen, meint Reheis. „Die Einführung des Bachelor- und Master-Systems geht einher mit der Umwandlung in kleine Bausteine und European Credit Points.“ So würden die Möglichkeiten, im Studium eigene Interessen zu verfolgen immer geringer.

Wie aber gegensteuern? Als ein mögliches Vorbild nennt Reheis die Montessori-Pädagogik. Hier stünden die Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt. „So in etwa sollte es laufen.“ Allerdings sehe es derzeit danach aus, als ob diese Art der Pädagogik ein Privileg für die finanzkräftigeren Familien sei. So werde meist nur an privaten Einrichtungen unterrichtet. „Reformpädagogik müsste in allen staatlichen Schulen einziehen“, fordert der Experte.

Aber auch andere Maßnahmen würden helfen: Etwa, statt 45- oder 50-Minuten-Einheiten 90-Minuten-Einheiten einzuführen oder überhaupt Blockunterricht anzubieten. „Man würde dann den ganzen Tag mit einem Fach verbringen.“ Mehr Projektunterricht, fächerübergreifendes Herangehen an verschiedenste Themen sind weitere didaktische Möglichkeiten. Der Experte ist ein Befürworter der flächendeckenden Ganztagsschule. „Es macht einfach keinen Sinn, alles auf den Vormittag zusammenzupressen.“ Besser wäre eine „rhythmisierte Ganztagsschule“, in der Unterrichtseinheiten sowie Lern-, Spiel- und Sportgelegenheiten einander abwechseln würden.

Ein Jahr auf dem Segelboot

In der Schweiz etwa gebe es den Versuch, den Unterrichtsbetrieb für ältere Schüler ganz aufzulösen. Den Schülern werden dabei Materialien und Aufgaben zur Verfügung gestellt und sie entscheiden dann, wann, wo und wie sie sich den Stoff aneignen. Die Schule stehe dabei nur beratend zur Seite.

Reheis regt aber auch an, in andere Richtung kreativ zu denken. „Es ist zu überlegen, ob man Schüler in der siebenten oder achten Klasse nicht ein Jahr pausieren lassen sollte.“ Dieses Jahr – es entspricht im österreichischen Schulsystem der dritten beziehungsweise vierten Klassen Hauptschule, Mittelschule oder AHS – sollten die Jugendlichen in einer Werkstatt verbringen, auf einem Segelboot, in der Landwirtschaft.

Umgang mit Zeit verändern

Erfahrungsgemäß steckten die Mädchen und Burschen in dieser Zeit mitten in der Pubertät und „haben überhaupt keinen Bock auf Schule“. Insgesamt betont Reheis, dass Schulreform nicht nur im System selbst gedacht und umgesetzt werden müsse, sondern immer auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu sehen sei. „Wir müssen den Umgang mit der Zeit in der Gesellschaft verändern“, so der Bildungsexperte, der sich seit langem für die Entschleunigung engagiert und auch Mitglied des Vereins zur Verzögerung der Zeit sowie Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik ist. „Wenn Systeme überfrachtet werden, kollabieren sie“, ist Reheis überzeugt. Und dann komme es zu katastrophalen Zusammenbrüchen.

Fritz Reheis: „Bildung contra Turboschule!. Ein Plädoyer“, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2007, ISBN 978-3-451-03008-6, € 14,90.

LITERATUR

■Michael Ende, Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte.

Baeriswyl Michel (2000), Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, Reinbek.

Paul Virilio, Rasender Stillstand (1992)

Geißler Karlheinz (Hrsg), Zeitvielfalt. Wider das Diktat der Uhr.

www.fritz-reheis.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.