Die Welt bis gestern: 1950: Westbahnhof, Numero zwei

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Eine „Presse“-Reportage über den rasanten Bau des heutigen Bahnhofes.

Der altvertraute Wiener Westbahnhof ist kaum wiederzuerkennen. Ein Megabahnhof wird hier entstehen, viele Milliarden Euro werden in das Projekt fließen, das sich ab 2011 als „Bahnhof-City Wien West“ präsentieren soll. Es wird dann bereits der dritte Bahnhof auf diesem Standort sein. Der erste wurde 1858 für die „k. k. priv. Kaiserin Elisabeth-Bahn“ von Wien West nach Linz errichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurde er von den alliierten Bomberflotten völlig zerstört.

Noch 1950 stand hier eine Brandruine. Aber der Bau des heute denkmalgeschützten Bahnhofsteiles am Europa-Platz beflügelte die Fantasie der Medien. Am 13. Mai 1950 berichtete „Die Presse“ ganzseitig über das damalige Bautempo – Untertitel: „Auf der Rolltreppe in den Arlberg-Express“.

„Noch ist es allerdings lange noch nicht so weit mit der Rolltreppe und den anderen großen Vorhaben am Mariahilfer Gürtel. Noch bietet sich das erschreckende Skelett der von Bomben und Granaten zerschlagenen alten Bahnhofshalle. Nur die Seitenwände sind jetzt übrig gelassen worden, und es ist eigentlich überraschend, dass diese Ruine einer Windstärke zehn überhaupt noch standhält. Offenbar sind die Techniker optimistisch.

In den letzten Wochen hat sich ein Kleingebirge von Sand und Erde vor dem Torso des Bahnhofes aufgebaut, eine braungelbe Wüstenei, anzusehen wie Dünungswellen in der Sahara. Aber das ist gut so, denn das bedeutet den Anfang vom Kommenden. Jede bauliche Neugeburt der Technik lässt sich wenig schön an. Also auch hier.

Da sind zunächst die Tiefbauarbeiter am Werk, die den Untergrund zurechtmachen. Sie holten tüchtig aus, wohl sechs, sieben Meter und vielleicht mehr. Das Souterrain der Stadt, mit dem Netz von Hochquellenleitung, Starkstrom- und Fernsprechkabeln, den Rohrpoststrängen und Abwasserkanälen, ist ein heikles Gebilde, und jeder Spatenstich will wohlüberlegt sein. An den Planken des Bauplatzes stehen die Nichtstuer und schauen aufmerksam zu.

Es rumoren die Betonmischer, da heben Krane schwere Rohrstücke in den tiefen Keller Wiens, und so entsteht allmählich das Podium für das bis auf siebenundzwanzig Meter an den Gürtel ,vorgezogene' künftige Hauptgebäude des Bahnhofes. In dieser fast kriegsmäßig wirkenden Grabenstellung der Arbeit nehmen sich die Kastanienbäume mit den leuchtenden Blütenkerzen und der duftende Flieder fremd aus.

„Geradezu ein Palast“

Mit 15 Millionen Schilling als erste Rate auf dem Tisch der Bauleitung ,Westbahnhof' hofft man, noch in diesem Jahr das Kopfgebäude im Rohbau unter Dach zu bringen. Es wird ein stattlicher ,Kopf' werden, das versprechen die Bilder des preisgekrönten Gemeinschaftsentwurfes der Ingenieure Hartinger, Wöhnhart und Schlarbaum. Es wird ein Gigant, der einen Höhenunterschied von 3,80 Meter zwischen Erd- und Gleisgeschoß aufweist. Ein dreißig Meter langer Tunnel für Fußgänger soll den Anschluss an die Stadtbahn herstellen.

Das in vier Jahren zu Erwartende ist für den in diesem Punkt nicht verwöhnten Wiener erfreulich. Der neue Westbahnhof wird sich, gemessen an dem alten, geradezu als Palast vorstellen. Von außen mit Sandstein verkleidet, im Innern Marmor, Marmorglas, Leichtmetallverschalungen und Leuchtröhren. Im Entree 18 Kassenschalter – geradezu unvorstellbar nach heutigen Begriffen, dann separate Räume für das Verkehrsbüro, den Kraftwagendienst, für Buchhandlungen, Buffet, Trafik, Friseur und Bäder.

Noch nicht elektrifiziert

Zwei bis acht Meter breite Treppen führen zum Kopfbahnsteig mit seinen elf Gleisen. Hier tut sich die Nobelgastwirtschaft auf, ,Restaurant 2. Klasse‘, wie es traditionsgemäß und bahnamtlich immer noch heißt, mit dem Ausblick über die Grünanlagen zur Mariahilfer-Kreuzung. Natürlich ist auch schon der elektrische Teil für die Zugförderung vorgesehen, sodass im gegebenen Zeitpunkt einfach eingeschaltet zu werden braucht – und sich dann die Dampflokomotiven hier für immer empfehlen.

Es wird ein hübscher Weg werden vom Gürtel, der Mariahilfer Straße oder der Felber Straße zum neuen Wiener Westbahnhof. Auch durch eine Passage, flankiert von Vitrinen, am Postamt vorbei, durch die leuchtende Halle zu den Rolltreppen, die den Gast beinahe bis vor die Türen des Arlberg-Express setzen. Aber, wie gesagt: Bis dahin hat es noch eine Weile...“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2008)

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