Vergebliche Fluchtversuche

(c) Tal Adler (collectors' items 37, May 1999)
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Viele Länder wiesen 1938 jüdische Flüchtlinge ab, andere nahmen sie nur ungern auf. Im Holocausmuseum Yad Vashem in Jerusalem wird ihrer gedacht.


„Ich weinte nicht. Und ich war nicht die Einzige, die nicht weinte. Wir waren völlig schockiert. Wir waren wie Zombies", erzählt Alice Doitch aus Jerusalem, die mit acht Jahren nach Bergen Belsen ins Konzentrationslager musste. „Als meine Mutter diesen Ort sah, sagte sie: Leute, wir werden hier niemals wieder heraus kommen." Vier Monate später wurde Alice auf dem Zugtransport ins Lager Theresienstadt von den Amerikanern befreit. „Ich war neun Jahre alt. Das war meine Kindheit. Eigentlich hatte ich keine Kindheit." Ihre Erinnerungen sind Teil des Kunstprojektes „I left everything behind" des Künstlers Tal Adler, der Flüchtlinge und Immigranten befragte, welche Gegenstände sie auf der Flucht mitnehmen konnten und was sie alles zurücklassen mussten. Postkarten zu je 1000 Stück wurden gedruckt und verteilt. „Ich interviewte und fotografierte eine alte Dame, Überlebende des Holocaust, Palästinenser vom Daheishe-Flüchtlingscamp in Bethlehem, nach der Bombardierung aus Belgrad geflüchtete Juden und Äthiopier im ‚Absorption Center' von Mevasseret, die gerade erst in Israel angekommen waren", erzählt Tal. Von einer Handvoll Erde aus dem Dorf, um sich an den Geruch zu erinnern, bis zu den „richtigen" Fotos aus dem Fotoalbum reicht die Wunschliste der Dinge, die man gerne mitgenommen hätte. Ein Kamm, vom Bruder geschenkt oder der Hochzeitsring vom Großvater, werden zur wichtigen, symbolischen Verbindung mit der Familie über Kontinente hinweg. Der Begriff „Flüchtling" ist in Israel, bedingt durch die Geschichte - und ganz anders als in Österreich, wo sich in der Habsburger-Monarchie die Bevölkerung ganzer Landesteile unabhängig machte, sozusagen von Österreich weg flüchtete - ein großer Schirm für eine Menge unterschiedlicher Konzepte. „In Israel gibt es zwanzig verschiedene Schichten von Flüchtlingen und genauso zwanzig unterschiedliche Varianten der Integration", sagt der in Jerusalem lebende Künstler.

Tiefe Wurzeln

Auf einem Hügelkamm oberhalb von Jerusalem liegt die Erinnerungsstätte Yad Vashem, dem Meer zugewandt, „der Richtung, aus der die Menschen, die von den Nazis umgebracht wurden, sonst gekommen wären", wie Amos Elon schreibt. Die Architektur dieses Holocaustmuseums, der Gedenkstätte zur Erinnerung an die ermordeten europäischen Juden, ist monumental und beeindruckend. In Form eines riesigen Dreiecks aus Beton angelegt, dringt von oben Sonnenlicht durch die Fenster an der Spitze. Gleich zu Beginn der multimedialen Ausstellung werden Dokumente gezeigt, die auf die in München im November 1937 eröffnete Wanderausstellung „Der ewige Jude" hinweisen. Diese größte antisemitische Ausstellung, die die Nazis vor dem Krieg in aller Öffentlichkeit und mit „künstlerischem" Anspruch platzierten, wurde von August bis Oktober 1938 in der Halle des damaligen Haupt-Bahnhofes in Wien gezeigt. Direkt daneben liegt in einem Glastisch das Spiel „Mensch ärgere dich nicht" auf „Jude, auf nach Palästina" verwandelt - Wiener Kollektion. Wie tief der Antisemitismus in Österreich schon lange vor den Nazis verwurzelt war, sieht man anhand der „spielerisch-lustvollen" Ausformung deutlich. „Zeige Geschick im Würfelspiel, damit du sammelst der Juden viel", steht im Spielfeld. „Der Spieler folgt dem Weg, der jüdische Geschäfte kreuzt. Wer auf diesem Feld landet, gewinnt eine Figur mit einem jüdischen Hut. Gewinner ist derjenige, der sechs solcher Figuren zu einem Versammlungspunkt mit dem Titel ‚Auf nach Palästina' bringt."

Einreise verboten

Ein Globus steht auf einem Holztisch. Daneben vergräbt ein Mann sein Gesicht in den Händen. Die Türe steht offen. „Le refugee/ Der Flüchtling" heißt dieses Bild in grau und braun, dass Felix Nussbaum 1939 malte. Der Wiener, der als Kunststudent in Rom lebte, wurde 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet. Oberhalb des gerahmten Bildes hängt ein großes Foto an der Wand: Ein altes Wiener Haus mit der Aufschrift „SS Polizei Margarethen" und einer Menschenschlange davor ist zu sehen. „Mai 1938. Juden warten vor einer Wiener Polizei Station, um Papiere für die Emigration zu empfangen", ist die Bildunterschrift. Der Ausstellungs-Weg biegt abwechselnd nach links und rechts in große Schauräume ab und in dem offenen, geraden Teil in der Mitte sieht man immer wieder Gruppen anderer Ausstellungsbesucher und kann Luft schöpfen. Es kostet viel Kraft, angesichts all dieser Erinnerungsdokumente an furchtbare Taten nicht den Lebensmut und die Lebensfreude zu verlieren. Allein in einer großen afrikanischen Besuchergruppe ist hie und da ein gegenseitiges Zulächeln zu sehen. Viele Besucherinnen kämpfen mit den Tränen, auch Männer schlucken sichtbar und gehen schnell weiter. Irgendwann ist es aber auch bei ihnen mit der Selbstbeherrschung vorbei. Selbstverloren spielt ein Junge auf dem Klavier in einer nachgestellten Emigranten-Wohnung. Erschütternd die filmische Dokumentation der oft vergeblichen Fluchtversuche, wie der langen Reise der „St. Louis". Im Mai 1939 weigerte sich Kuba die 939 Juden und Jüdinnen des Flüchtlingsschiffes „St. Louis" aufzunehmen, die über den Atlantischen Ozean gekommen waren. Das Schiff musste am sechsten Juni über die USA, die sich auch weigerte die erschöpften Menschen aufzunehmen, zurück nach Deutschland. Im letzten Moment gaben Großbritannien, Belgien, Frankreich und Holland ihr Okay für ein „temporäres Asyl". Allein Shanghai verlangte bis zum August 1939 kein Visum, die Einreise in die meisten Länder blieb verboten. „Unter den Umständen kann Australien nicht mehr machen", sagte zum Beispiel T.W. White, australischer Delegierter auf der Evian Konferenz, auf der Präsident Roosevelt im Juli 1938 den 32 teilnehmenden Ländern klar machte, dass die USA nicht ihre Immigrations-Politik und die Quote von 27.350 Einwanderern pro Jahr aus Österreich und Deutschland ändern werde. White wortwörtlich: „Da wir kein rassisches Problem („racial problem") haben, wollen wir auch keines importieren."

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