Wien: Der rote Faden im Wiener Alltag

Erika Partl lebte Jahrzehnte im Gemeindebau. Sie zog aus, weil für sie die Werte nicht mehr stimmten.
Erika Partl lebte Jahrzehnte im Gemeindebau. Sie zog aus, weil für sie die Werte nicht mehr stimmten.(c) Clemens Fabry
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Seit 70 Jahren herrscht die Sozialdemokratie in Wien. Die lebensbestimmende Ideologie hat sich zum gluckenhaften Service für seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre gewandelt.

„Ich wollte nicht mehr im Gemeindebau wohnen, das ist nicht mehr meine Welt“, sagt Erika Partl (81). Ihre Biografie liest sich wie der Prototyp des Roten Wiens: Sie wurde 1934 in einem öffentlichen Spital geboren, sie ging in eine öffentliche Schule und wohnte Jahrzehnte mit ihrem Mann, der bei den Wiener Linien arbeitete, im Gemeindebau. Jetzt verbringt sie ihren Lebensabend in einem Pensionistenhaus der Stadt Wien – und wenn die Sonne scheint, liegt sie an der Alten Donau, wo sie eine Kabine hat. Natürlich auch von der Stadt Wien.

Für Menschen wie Partl wurde der Gemeindebau mit dazugehörigen Werten errichtet. Was bewegt diese Frau, die in dem Jahr geboren wurde, als der Bürgerkrieg tobte und Christlichsoziale mit Kanonen auf Gemeindebauten schossen, um die dahinterliegende Ideologie zu zerstören, dazu auszuziehen?

1934, im Geburtsjahr von Erika Partl, erlebte die Sozialdemokratie in ihrem Zenit ihre schwärzeste Stunde und wurde mit dem Bürgerkrieg für fast 20 Jahre begraben. Als sie nach dem Weltkrieg ihre Auferstehung feierte, war sie nicht mehr dieselbe: Die Kriege hatten die rote Politik verändert, Akteure gelehrt, kompromissbereit, pragmatisch zu sein. Aus einer strikten Durchplanung des Lebens und dem Kollektivismus durch die Sozialdemokratie wurde über die Jahrzehnte eine Art Individualismus mit Benefits. Heute ist von der einst alles bestimmenden Ideologie ein Service der Stadt für deren Bürgern geblieben, das sich wie ein roter Leitfaden durch das Leben zieht.

Rundumservice. Kaum auf der Welt, begrüßt die Stadt jedes Baby mit einem Wickelrucksack mit Babydecke, Bodys, Stofftüchern – und ausführlichen Informationen zum Betreuungsangebot für Mütter und ihre Kinder. Derzeit gibt es in Wien 79.800 Kindergartenplätze, rund 40 Prozent sind öffentlich, aber auch die privaten werden mit 500 Euro pro Monat gefördert. Rund 700 Millionen Euro werden 2015 in die Betreuung gepumpt. Nach dem Kindergarten geht es normalerweise in eine der 354 Volksschulen der Stadt. Und auch für die Freizeit gibt es Angebote: Mehr als 1000 Mitarbeiter der Stadt sind in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Es gibt Vereine, Programme für die Ferien, 39 Büchereien, Jugendzentren und Spielplätze. Kosten: 38 Millionen Euro jährlich.

Mit der Volljährigkeit hilft die Stadt gern bei der Jobsuche: 72.463 Wiener sind bei der Stadt und ihren Unternehmungen beschäftigt – somit ist die öffentliche Hand der größte Arbeitgeber. Personalkosten: rund vier Milliarden Euro jährlich. Mehr als zwei Drittel aller Wiener wohnen im geförderten Wohnbau – Wiener Wohnen ist die größte Hausverwaltung Europas. Und für die Zeit nach dem Arbeitsleben hat die Stadt schon das passende Programm für die Pension vorbereitet: 30 Wohnhäuser sorgen für die ältere Generation, unzählige SPÖ-Vereine bieten Freizeitangebote – vom Kegeln über Selbstverteidigungskurse bis zum Liederabend.

Wer in Wien lebt, kann sich darauf verlassen, dass alles im Großen und Ganzen funktioniert: Es gibt eine gute Gesundheitsversorgung, das Netz der öffentlichen Verkehrsmittel gilt international als vorbildhaft, und wohl kaum eine Müllabfuhr hat ein so gutes Image wie die MA 48. Die Sozialdemokratie wirbt stolz und selbstbewusst damit, das Leben für ihre Bewohner durch und durch – und gut – organisiert zu haben. Das Amt gratuliert sogar zu runden Geburtstagen mit einer Karte der Bezirksvorstehung – bei Ehejubiläen liegt dem Billett sogar eine Einladung ins Rathaus bei. Wer neu in die Stadt kommt, wird sofort in dieses System eingegliedert und findet schon nach wenigen Tagen Einladungen zu Bezirkstreffen im Postkasten. Laut Stadterfassung darf sie das auch, denn die Behörde hat Zugriff auf persönliche Daten – und nutzt diese auch, um mit etlichen Drucksorten und Magazinen zu werben.

Die Stadt Wien ist immer da, in guten wie in schlechten Zeiten. Und bis zum Tod – 46 Friedhöfe gehören der Stadt. Die 550.000 Gräber werden von einer Firma betreut, die über die Wien-Holding der Stadt gehört.


Alte Zeiten. „Vor 70 Jahren ist die Stadt in Trümmern, Asche und Elend versunken. Deshalb müssen wir an jene Generationen – unsere Eltern und Großeltern – erinnern, die diese wunderschöne Stadt wieder aufgebaut haben. Vieles ist selbstverständlich geworden“, sagt Bürgermeister Michael Häupl bei seiner Rede am 1. Mai, jenem Tag, an dem die SPÖ die Stadt und sich selbst feiert – so genau schaut man da nicht. Man wolle diese Stadt, die so großartig ist, für die Zukunft erhalten, betont er.

Alles das, was die Sozialdemokratie mitgeschaffen hat, ist noch da – die politischen Werte, aus denen alles entstand, sind schwammig geworden. 1926 sprach einer der wichtigsten Theoretiker, die den Klassenkampf mit ihren Schriften inspirierten, von der Partei als „einer revolutionären Glut und Begeisterung, in welcher jeder Einzelne sich verwandelt und gehoben fühlt. Jeder wirklich revolutionäre Klassenkämpfer ist nicht von dieser Welt und will es nicht sein, weil all sein Streben und Wirken der Entwicklung gehört, der neuen Welt, die er aufbauen will.“ Derartig kämpferische Worte hört man von der SPÖ schon lange nicht mehr – Häupls klare Aussagen zur Flüchtlingskrise verwunderten, fielen als Ausnahmen auf und dienten im Wahlkampf zur Positionierung. Ab der Nachkriegszeit wurde viel zur ideologisch unreflektierten Gewohnheit. Einst definierte sich die Partei als klar linke Partei – heute hat sie Wähler an allen politischen Rändern, die sie nach und nach verliert. Man fragt sich: Wo steht die Partei heute? Das ist bei der FPÖ keine Frage: Sie ist auch ein starker Gegner, weil sie mit Ideologie Wahlkampf macht.


Ziel erreicht. Die Sozialdemokratie rühmt sich dafür, was sie in Wien alles erreicht hat: Arbeiterkinder können studieren, niemand muss hungern, Arbeit wird meist gerecht entlohnt. Vielleicht ist aber genau das das Problem: Der Kampf der Arbeiter ist heute nicht mehr nötig und somit auch die damit einhergehende Ideologie nicht. Auch wenn Bürgermeister Michael Häupl im aktuellen Wahlkampf die alten Zeiten beschwört, um gegen eine erstarkende FPÖ zu punkten, und wieder Gemeindebauten errichten will – so werden es wohl doch nicht mehr als billige Wohnungen sein, in denen sich Menschen wie Erika Partl, die die Entwicklung der Sozialdemokratie mitverfolgt, nicht mehr zu Hause fühlen. Und sogar damit ist sie ein Prototyp der einst starken SPÖ-Klientel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2015)

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