Werner Vogt: "In Wien herrscht politische Inzucht"

Werner Vogt Wien herrscht
Werner Vogt Wien herrschtBruckberger
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Der Mediziner Werner Vogt übt Kritik am Stillstand in der Gesundheitspolitik. "Wien ist gesundheitspolitisch völlig charakterlos", sagt er. Wem das Parteibuch fehle, der werde über kurz oder lang hinausgeekelt.

„Die Presse“: In der SP-Wahlwerbung heißt es, dass das Wiener Gesundheitssystem ausgezeichnet ist. Sehen Sie das auch so?

Werner Vogt: In Wien gibt es seit Jahrzehnten nur mehr Gesundheitsverwaltung. Die letzte gesundheitspolitische Aktion ereignete sich 1979. Damals setzte der autoritäre Gesundheitsstadtrat Alois Stacher die Psychiatriereform durch und entleerte die Anstalten. Statt 3858 Betten kommt man nun mit 635 psychiatrischen Betten aus. Aber das war vor 30 Jahren. Seither gab es mehrmals Lainz-Skandale, Gewalt gegen Untergebrachte im Altenheim. Und das AKH ist immer noch nicht fertig gebaut.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diesen Stillstand?

Vogt: Wien ist gesundheitspolitisch völlig charakterlos. Es fehlt die Person oder die Gruppe, die gesundheitspolitisch eine Vorstellung für ein „rotes Wien“ entwickelt und durchsetzen will. Alle Verantwortlichen sind Parteiköpfe; wem das Parteibuch fehlt, der wird über kurz oder lang hinausgeekelt. Das produziert politische Inzucht.

Was konkret werfen Sie der Stadtverwaltung vor?

Vogt: Riesenmängel, etwa in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder in der Geriatrie, werden vertuscht oder geleugnet. In der Stadt steigt auch die Armut, vor allem die Frauenarmut, aber dagegen wird nichts getan. Viele Hilfsschwestern arbeiten schwarz bei privaten Schwesternpools, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Die Jugendwohlfahrt wurde systematisch heruntergefahren.

Wiens Gesundheitspolitiker weisen den Vorwurf der Klassenmedizin vehement zurück. Gibt es die?

Vogt: Solange in allen Gemeindespitälern sogenannte Klassenbetten stehen, und das nicht zu knapp, gibt es Klassenmedizin. Und es gibt auch eine Klassenpflege. Wer Beziehungen hat, landet in den neuen Häusern oder in den kleinen Einheiten der Caritas Socialis. Eher wird die Klassenmedizin ausgebaut als abgebaut.

Die Wiener Regierung gelobt, die Wartezeiten für Operationen verkürzen zu wollen. Geschieht dies?

Vogt: Mir ist nicht bekannt, dass sich die Wartezeiten für eine Augenoperation oder eine Hüftoperation für Normalsterbliche, also Kassenpatienten, verkürzt hätten. Ich weiß aber, dass die Zahl der Klassenpatienten, also der Zusatzversicherten, gestiegen ist. Und wer für das Ärztesystem mehr bringt, kommt auch früher dran.

Mischt die SP-Parteipolitik im Wiener Gesundheitswesen stark mit?

Vogt: Natürlich, wenn es um die Besetzung von Stabsstellen in der Gesundheitsverwaltung und um die Ernennung von Primarärzten, Pflegedirektoren, Verwaltungsdirektoren geht. Parteibuch oder Parteinähe ist gut, eine kritische und öffentliche Beurteilung der Stadtpolitik ist schwer schädlich. Der Wiener Bürgermeister ist kleinlich und nachtragend. Und die Stadträte sind folgsam.

Sie haben da auch so Ihre persönlichen Erfahrungen gemacht...

Vogt: Als mich Elisabeth Pittermann (Gesundheitsstadträtin 2000 bis 2004, Anm.) zum Pflegeombudsmann von Wien machte, war sie bald nicht mehr Stadträtin. Ihre Nachfolgerin Renate Brauner hat mich dann bald entfernt. Zu viel Kritik, zu wenig Lob, daher ungeeignet für das mogelnde Wien.

Wie beurteilen Sie Stadträtin Sonja Wehsely im Vergleich zur Vorgängerin Renate Brauner?

Vogt: Wehsely interessiert sich für Gesundheitsversorgung, für Altenpflege, für psychiatrische Versorgung. Dieses Interesse war bei Brauner unterentwickelt. Die ist gerne im Mittelpunkt, egal bei welchem Event.

Sie haben als Pflegeombudsmann in Lainz gearbeitet. 2015 wird das Geriatriezentrum geschlossen.

Vogt: Es hat wenig Sinn, die Pavillons in Lainz zu schließen, wenn das Lainz-Prinzip, eine am Krankenhaus orientierte Altenpflege, in großen Neubauten weitergeführt wird. Die Mehrheit der Wiener wünscht Betreuung in den eigenen vier Wänden oder Pflege, wenn nötig, dort, wo man gelebt hat. Beide Wünsche werden ignoriert.

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ZUR PERSON

Der Mediziner Werner Vogt (72) arbeitete jahrelang als Unfallchirurg am Lorenz-Böhler-Krankenhaus in Wien und wurde durch sein medizinkritisches Engagement bekannt. 2003 wurde er Pflegeombudsmann in Wien, 2006 wurde dieser Posten wieder aufgelassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2010)

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