Das Experiment Nisko: Ein Judenstaat in Polen

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Im eroberten Polen plante Adolf Eichmann, später der Organisator des Holocausts, einen „Judenstaat“: Zwischen Bug und Weichsel wollte er alle europäischen Juden in einem riesigen Ghetto konzentrieren.

Am 19. Oktober 1939 trafen etwa 300 österreichische und tschechische Juden im polnischen Nisko am Fluss San ein. Am Bahnhof wartete bereits der SS-Mann Adolf Eichmann und begrüßte die Neuankömmlinge: „Der Führer hat den Juden hier eine neue Heimat zugesagt [. . .] Ihr seid in ein Gebiet gekommen, das zum Teil von seinen polnischen Einwohnern verlassen ist [. . .] Ihr werdet dort drüben ein Barackenlager bauen [. . .] Wenn ihr nicht Brunnen grabt und Wasser findet, werdet ihr krepieren!“

Jonny Moser, der dem Holocaust knapp entkommen war, hat seine Erinnerungen an eines der spannendsten Kapitel nationalsozialistischer Aussiedlungspolitik noch kurz vor seinem Tod fertigstellen und dem Verlegerpaar Heribert und Reingard Steinbauer übergeben können.

Sie klingt zunächst unglaublich, diese Geschichte von Nisko. Ein Judenreservat sollte es werden im NS-besetzten Polen, in jüdischer Alleinverwaltung, freilich unter deutscher Aufsicht.

Guayana, Madagaskar

Zunächst waren Guayana oder Madagaskar im Gespräch, doch diese Pläne der Nazis blieben Schimäre. Wohin also mit den Millionen Juden in Europa? Nicht viele hatten das Glück, unter Hinterlassung von Hab und Gut aus dem Großdeutschen Reich ins westliche Ausland flüchten zu können. Im Mai 1939 – Hitler hatte die Wehrmacht bereits angewiesen, den Angriff auf Polen vorzubereiten – ließ sich der „Führer“ vom selbst ernannten Partei-Ideologen Alfred Rosenberg Vorschläge machen: Wie sei die Lage in Polen? Rosenberg antwortete mit einem umfänglichen Dossier: Exakt 3,120.000 Juden lebten dort – „ein eventuell nicht zu unterschätzendes Faustpfand des jüdischen Lebensnervs . . .“

Erfinder des abenteuerlich klingenden Planes waren der Chef der Sicherheitspolizei im böhmischen Protektorat, SS-Standartenführer (Oberst) Walter Stahlecker und sein Freund, der Obersturmführer (Oberleutnant) Adolf Eichmann, Judenreferent im SD-Hauptamt. Es war der 10. September 1939. Die beiden entwickelten die Idee, von Polen, das gerade von der Wehrmacht überrollt wurde, „ein möglichst großes Territorium abzuzweigen und dieses zu einem autonomen Judenstaat zu erklären. . .“, schilderte Eichmann 1960 in seinem Prozess in Israel. „Die Parteistellen drängten, die Judenfrage zu lösen. Ja, hier witterten wir Morgenluft.“ So entstand also Nisko.

Schon zwei Tage nach dieser Aussprache war auch der mächtigste Mann hinter SS-Chef Himmler, Reinhard Heydrich, davon begeistert. Auch er sah in Nisko den Ausweg aus dem selbst geschaffenen Dilemma. Dort könnte man sämtliche Juden aus Österreich, Böhmen und Mähren und den neuen polnischen Gebieten ansiedeln. Freilich nur als Übergangslösung, „denn der Jude gehört nicht in den Siedlungsraum des weißen Menschen, sondern in den der Farbigen.“

Auch Hitler freundete sich offenbar mit der Lösung an. Am 26. September sagte er zu dem schwedischen Friedensvermittler Birger Dahlerus, „wenn er den polnischen Staat reorganisieren werde, könnte auch für die Juden ein Asyl geschaffen werden“. Und zwar zwischen Weichsel und Bug.

Der völlig überraschende Nichtangriffspakt zwischen Stalin und Hitler begünstigte die deutschen Pläne. Eine gigantische Bevölkerungsumsiedlung sollte nun stattfinden, die Volksdeutschen aus den baltischen Staaten mussten „heim ins Reich“ geholt werden, doch das endete im Chaos.

Die Kultusgemeinde wurde erpresst

Eichmann hingegen bewahrte Übersicht in seinem Bereich. Die ersten 300.000 unbemittelten Juden aus dem „Altreich“ und Österreich wurden „reisefertig“ gemacht. Bei Rozwadow sollte ein Barackendorf als Durchgangslager errichtet werden. Ein Vorauskommando wurde losgeschickt. 300 Reichsmark gab man jedem mit. Um der Alternative – dem KZ – zu entgehen, fanden sich genügend „Freiwillige“.

Sie wurden von der Wiener Kultusgemeinde rekrutiert, was deren Präsidenten Dr. Josef Löwenherz bisweilen als Kollaboration vorgeworfen wurde. Doch Jonny Moser nimmt den Mann in seinem fast unlösbaren Dilemma in Schutz: Er habe seine Mitglieder vor der sicheren Vernichtung schützen wollen und im Experiment Nisko wenigstens eine Chance zum Überleben gesehen. Obendrein musste Löwenherz aus der Kassa der IKG für jeden Transport enorme Summen an Eichmann überweisen. Mitte Jänner 1940 waren das rund 300.000 Reichsmark.

Das Experiment scheiterte am üblichen Machtkampf zwischen Heinrich Himmler und Hermann Göring. Die Wehrmacht hatte mit den eroberten polnischen Gebieten andere Pläne, Rosenbergs Behörde wieder andere. Bis Mitte Dezember 1939 hatten die Nazis aus den neuen Reichsgebieten mehr als 80.000 Polen und Juden auf brutalste und unmenschliche Art und Weise abtransportieren lassen. Die Pläne waren für die Aussiedlung von Millionen Menschen konzipiert. „Doch die Realität überholte die Planungen“, schildert Jonny Moser. Denn es mangelte an der Transportkapazität. Niemand hatte mit einem so strengen Winter gerechnet, so ließen sich auch unter größtem Druck so riesige Menschenmassen bei diesen Temperaturen nicht in Fußmärschen abschieben.

Die Baltendeutschen

Und dann waren da noch die bäuerlichen Volksdeutschen, die man hier ansiedeln wollte. Die Bauern benötigten landwirtschaftliche Arbeitskräfte und die fand man nur unter den ortsansässigen Polen, daher konnte man nicht alle aussiedeln. Auch die Rückführung und Ansiedlung der Baltendeutschen endete in totaler Verwirrung. Sie waren zumeist Stadtbewohner gewesen und weigerten einfach, im ländlichen Raum angesiedelt zu werden. Es gab aber nur Posen und Łodz. Da dort zu viele Polen wohnten, fiel das Los auf Stettin, worauf im Februar 1940 die SS 1200 Juden aus der Stadt jagte.

Und was geschah mit Nisko? Nach einem halben Jahr musste die SS die Aktion abbrechen und die dort noch lebenden „Schutzhäftlinge“ wieder nach Wien zurückbringen. 198 Männer kamen wieder, nur um in den Ghettos und den Konzentrationslagern zu verschwinden. Viele aber waren schon vorher aus Nisko in den russisch besetzten Teil Polens geflohen. Ihnen blühte meist dasselbe Schicksal, nur waren es eben sowjetische Vernichtungslager.

Jonny Moser

Nisko

Edition Steinbauer, 206 Seiten, € 22,50

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2012)

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