Ein Haifisch an der Börse – mit Kunstverstand

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Wiens berühmtester Spekulant Camillo Castiglioni lebte am Beginn des 20.Jahrhunderts wie ein Renaissancefürst. Von allen Kriegsgewinnlern Österreichs war er der wagemutigste – bis zum Bankrott.

Er war der reichste Österreicher nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Konjunkturritter, Kriegsgewinnler, ein Spekulant, ein Defraudant. Sein Vermögen entsprach – eine Zeitlang – dem gesamten Bundesbudget des arm gewordenen Landes. Camillo Castiglioni, geboren 1879 in Triest als Sohn eines Rabbiners, gestorben 1957 in Rom – nach einem turbulenten Leben mit sagenhaften Höhen und tiefen Einschnitten, Besitzer der größten Industrieunternehmen der Ersten Republik, widerwilliger Retter der Nationalbank, auch der Salzburger Festspiele, Pionier der heimischen Luftfahrt.

Als Vertreter einer US-Gummiwarenfabrik begann diese Karriere in Konstantinopel. Schon 1904 war der Mann Generaldirektor. Ein umtriebiger, außerordentlich tüchtiger Mann war dieser studierte Jurist. Zeitgenossen beschreiben sein Äußeres als abstoßend, jedoch muss er über Charme verfügt haben, der dieses Manko bei Weitem ausglich. Vor allem dann, als der Neureiche über all das verfügte, was Menschen erstrebenswert erscheint: Schlösser und Fabriken, Aktienbündel und tolle Autos, Flugzeuge und schließlich sogar ein eigenes Theater: „Die Josefstadt“.

Der Wirtschaftshistoriker Dieter Stiefel hat dieser vielfältigen und kaum zu durchschauenden Persönlichkeit nun eine detaillierte Biografie gewidmet, die einen tiefen Einblick in die Zwischenkriegszeit gewährt. Trotz eingehender Recherchen bleibt das Phänomen Camillo Castiglioni unbegreiflich. So etwas hat es davor und danach nie mehr gegeben.

Das landläufige Bild des brutalen, ungebildeten Börsenschiebers und geldgierigen Schmarotzers rückt Stiefel subtil zurecht. Castiglioni war gebildet, war belesen, strebte zu den höchsten Höhen der Kultur, er sammelte unschätzbare Gemälde für sein Palais in der Wiener Prinz-Eugen-Straße Nr.28 (vormals Miller-Aichholz). Aber er war für seine Geschäftsfreunde wie eine Spinne, die geduldig auf ihr Opfer warten konnte. Ein Zeitgenosse beschreibt ihn als „wahren Sauhund, einen Blutsauger, bereit, aus dem Stegreif seine schleimigen Fühler auszustrecken, um die Beute zu fassen.“

Die Inflation – unvorstellbar

Wer über die nötige Geschicklichkeit und Ellenbogen verfügte, dem bot die brutale Inflation unbeschränkte Möglichkeiten: 1914 wies die amtliche Statistik die monatlichen Lebenshaltungskosten pro Person mit 86 Kronen aus, im Oktober 1921 mit 9353 und im Oktober 1922 mit 793.066 Kronen. Ein Brot kostete 5760 Kronen statt 46 Heller. Vor der Banknotendruckerei in der Herrengasse warteten die Bankbeamten mit Schubkarren, um die Mengen an Papiergeld in die Filialen zu transportieren.

Castiglioni wusste seinen „Riecher“ zu nützen. Sein Interesse an modernen Verkehrsmitteln brachte ihn bald in Kontakt mit der steirischen Firma Puch, die sanierungsbedürftig war, ebenso mit dem Turiner Fiat-Werk. Der Weltkrieg bot nun den nötigen Schub: Castiglioni produzierte für die österreichische Armee und profitierte zugleich durch den raschen Verfall der Währung. Binnen weniger Jahre war er ein reicher Mann.

Porsche, Škoda, Fiat, Puch

Schon zuvor hatte er sich 1910 bei Ferdinand Porsche engagiert und bei den Pilsener Škoda-Werken, bald kontrollierte er die drei größten Autohersteller Österreichs. Sein Traum eines Automobilkonzerns Daimler-Fiat-Puch realisierte sich wegen des Krieges erst 1921. Seele des Unternehmens war der geniale Konstrukteur Ferdinand Porsche, der schon Ende 1919 einen „Volkswagen“ plante. Doch dem Geldgeber Castiglioni waren die Visionen Porsches zu vage, 1923 kam es zum Bruch, der Choleriker Porsche verließ das Werk mit den Worten: „Leckt's mich, Ihr Judenbagasch!“

Castiglioni war nicht nur von der Börse und von flotten Autos besessen, auch die Luftfahrt hatte es ihm angetan. 1911 – da war er schon Direktor von Semperit – unternahm der Wagemutige einen 390 Kilometer langen Nacht–Ballonflug. Er war eines der ältesten Mitglieder des heute noch bestehenden „Aero-Clubs“, gegründet von Viktor Silberer, den Lesern der „Welt bis gestern“wohlbekannt. Und weil er sich von Flugzeugen im Kriegsfall Profit versprach, intervenierte er ständig beim Kriegsministerium. Als niemand auf ihn hörte, ließ er sich ein Flugzeug bauen und umkreiste 1908 zum Schrecken der Wiener den Stephansturm. Dann bekam er endlich seine Audienz bei Franz Joseph. Und wenig später produzierte Castiglioni in Wiener Neustadt, gemeinsam mit der Firma Lohner. Die Zusammenarbeit mit den Armeebehörden verlief nicht immer reibungslos. Einen Adjutanten, der Castiglioni den sofortigen Eintritt bei einem General verweigerte, forderte er zum Duell mit Säbeln. Vom Kriegsminister Krobatin bekam er dazu ausdrücklich die Bewilligung – beide Duellanten gingen mit unbedeutenden Wunden von dannen. Seitdem liefen die Bestellungen in Castiglionis Flugzeugwerken „Albatros“ und „Phönix“ wie geschmiert. 1917 fusionierte er sie mit den Bayrischen Motorenwerken (BMW).

Heinkel einfach „gekapert“

Ein reicher Fabriksbesitzer kann sich auch die genialsten Mitarbeiter leisten. Ernst Heinkel war schon 1914 der größte Konstrukteur in seiner Branche. Weil er zögerte, auf ein lukratives Angebot Castiglionis sofort einzusteigen, kaufte der Wiener Geschäftsmann die gesamten Brandenburgischen Flugzeugwerke – samt deren Chefkonstrukteur. Und er sorgte dafür, dass für Heinkel in jeder Stadt Europas ein Auto mit Chauffeur bereitstand, wobei in Wien nur das „Bristol“ oder das „Imperial“ infrage kamen.

Und plötzlich Italiener...

Die Nähe zu dem letzten Kaiser der Donaumonarchie, dem unglücklichen Karl, hinderte den Geschäftsmann freilich nicht, die Kriegslage realistisch einzuschätzen. Sofort nach dem verlorenen Krieg schwenkte Castiglioni ins Lager des Siegers Italien, erlangte die italienische Staatsbürgerschaft und war damit auch eine gewaltige Finanzschuld in der alten Heimat los. „Der Abend“ skizzierte Castiglionis Charakter mit beißender Ironie: „Herr Castiglioni hat seinen k.u.k. österreichisch-ungarischen Patriotismus glücklich niedergerungen und ist offen und – so weit wie möglich – ehrlich Italiener, Faschist und überzeugter Anhänger des Signore Mussolini. Auch der Großgeschäftsmann kann einer Überzeugung nicht entbehren. Es muss nur nicht immer ein und dieselbe sein und sicherlich nicht die, mit der sich gerade nichts verdienen lässt.“

Die unvorstellbare Inflation nach dem Kriege war das Biotop, in dem Castiglionis sagenhafter Reichtum blühte. Er nahm Millionen in die Hand und konnte die Schulden wenig später leicht zurückzahlen: Innerhalb von einem Tag war die Währung nur noch ein Fünfzigstel wert.

Görings Fehleinschätzung

Gestatten wir uns eine kleine Abschweifung: Stiefel schildert eine kurze Begegnung des jüdischen Finanzmannes, der allerdings längst zum evangelischen Glauben konvertiert war, mit Hermann Göring. Der engste Paladin Hitlers lud Castiglioni 1933 zum Frühstück. Göring: „Meine besten Jugendfreunde sind Juden gewesen und haben mich gut behandelt. Ich denke gar nicht daran, gegen sie vorzugehen.“ – „Aber Hitler ist Antisemit“, wandte C. ein. Göring: „Ich werde ihn noch davon abbringen, verlassen Sie sich darauf...“

Sargnagel Depositenbank

Der Kauf der Depositenbank schließlich war der ersehnte Türöffner in die abgeschlossene Gesellschaft der österreichischen Industriebarone, schildert der Historiker. Letztlich freilich wurde sie zum Sargnagel aller Bestrebungen des Emporkömmlings. Er besaß schon die Alpine-Montan, damals das größte heimische Unternehmen, er kontrollierte die größte Papierfabrik (Leykam-Josefsthal), den Energieversorger Steweag, er ging eine Kooperation mit dem deutschen Kohle- und Stahltycoon Hugo Stinnes ein, präsentierte stolz seine (dritte) Gemahlin, die schöne Burgtheater-Mimin Iphigenie Buchmann – und hatte schließlich einen Betrugsprozess am Halse, als seine Bank pleiteging. Seltsame Parallelen eröffnen sich dem Leser: Da ging es um Billionen damaliger Währung, um Finanzschulden in atemberaubender Höhe. Da verschwanden Untersuchungsakten plötzlich durch einen mysteriösen Einbruch bei Gericht... Castiglioni selbst konnte sich durch Flucht ins Ausland retten, verglich sich später und war wieder hochgeehrt. Dem von den Sozialisten geäußerten Verdacht, alles sei unter den Teppich gekehrt worden, weil der Bankrotteur den christlichsozialen Wahlfonds gespeist habe, wurde nie nachgegangen...

Außer in seiner Prachtvilla am Grundlsee repräsentierte der Finanzhai hauptsächlich in der Villa Miller-Aichholz in der Prinz-Eugen-Straße, die er 1919 samt Mobiliar und Kunstschätzen gekauft hatte. Zeitgenossen berichten von verschwenderischen Soireen, die eines Renaissancefürsten würdig gewesen wären. Zwei Tizians, fünf Tiepolos, ein Tintoretto und ein Rembrandt sorgten für begeisterte Reaktionen der Eingeladenen. Die Gemälde wurden später versteigert.

Der Zeitungszar

Und damit auch ganz Wien von der seltenen Pracht Kenntnis erlangte, kaufte Castiglioni alle Wiener Tageszeitungen, die zu kriegen waren. Bis zuletzt hoffte er vergebens, dass er von der Witwe Moriz Benedikts auch noch die „Neue Freie Presse“ angeboten bekäme. Dazu kam es nicht mehr. Castiglionis Glanz verblasste, das Vermögen schmolz nach der Währungsstabilisierung dahin, das Palais wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt und später abgerissen.

Castiglionis Privattheater

Kunstmäzen. Castiglioni hatte zwei Gesichter. Er war Spekulant und glühender Kunstliebhaber. Für Max Reinhardt kaufte er 1923 das Theater in der Josefstadt und ließ es um 1,5 Millionen Schweizer Franken umbauen. Und 1929 half er den defizitären Salzburger Festspielen: Er sprang mit einer hohen Summe ein und trug außerdem Reinhardts (hohe) Tantiemen für ein Jahr. [Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.