Sklaverei: Die Mädchenhändler von Wien

Kinderjahre in der Monarchie
Kinderjahre in der MonarchieORF
  • Drucken

Wien um 1900: Ein Historiker räumt mit dem kitschigen Klischee von der „guten alten Zeit“ gründlich auf. In der Donaumonarchie ohne Grenzkontrollen blühte die organisierte Kriminalität in ungeahntem Ausmaß.

Die Masche ist seit Jahrhunderten dieselbe: Geschäftssinn auf der einen Seite trifft auf Freiheitsstreben auf der anderen Seite. Was nach einer sinnvollen Ergänzung klingt, endet zumindest für die „andere Seite“ in gesellschaftlicher Ächtung, Nötigung und schließlich in klassischer Sklaverei. Mädchen und junge Frauen als reine Handelsgüter sexueller Begierden lassen sich in der Kulturgeschichte der Menschheit bekanntermaßen seit Jahrhunderten beschreiben.

Galizien, Bukowina ...

Was heute so gut wie unbekannt ist, weil es gern verschwiegen wird: Die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und die gesamte k.u.k. Monarchie waren vor gut hundert Jahren eines der Zentren des weltweiten Mädchenhandels, wobei die stark jüdisch besiedelten Reichsgebiete in den Kronländern Galizien und der Bukowina den bei Weitem größten Teil der zeitgenössischen Mädchenhändler stellten.

Allein in den Jahren 1906 bis 1909 verschwanden aus den Ballungsräumen Wien, Lemberg und Budapest über 1200 junge Frauen und Mädchen spurlos, um in den Bordellen von Konstantinopel, Algier oder Buenos Aires wie Sklaven gehalten „anzuschaffen“.

Der jüngst erschienene Wien-Krimi „Traite des Blanches. Mädchenhandel“ des Historikers Johannes Schönner versucht in literarischer Form genau diesem Phänomen nachzuspüren. Seine peniblen Recherchen im Archiv der Bundespolizeidirektion in Wien offenbaren ein Bild zynischer Geschäftemacher, naiver Jugendlicher und einer überforderten Gesellschaft.

Auf tausenden Seiten von Akten wird ein Bild von Wien und der Monarchie gezeichnet, das rein gar nichts mit dem honigsüßen und verlogenen Klischee von Sisi und dem „guten, alten Kaiser in Schönbrunn“ gemein hat.

Organisiertes Verbrechen

Es war bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein globaler Moloch, dessen Geschäftszweige von Mitteleuropa, nach Nordafrika, dem Osmanischen Reich bis nach Südamerika reichten. Diese geografische Aufzählung ist freilich ohne Vollständigkeit. Die Stützpunkte der Händler, der „Vertrieb“ und die Rekrutierungsfahrten erfassten alle Städte der damals sogenannten „zivilisierten Welt“. Zu einträglich war das Geschäft.

Der Mädchenhandel war aber auch einer der ersten kriminellen Geschäftszweige, bei denen sich internationale Polizeiermittlungen und Fahndungen durchsetzen konnten und sich auch – teilweise – bewährten. Zum ersten Mal zeigte Interpol in länderübergreifenden Recherchen, dass man gewillt war, den Kampf gegen die Mädchenhändler aufzunehmen.

Wiens Polizeipräsident Interpol-Chef

Selbst verfeindete Staaten wie Frankreich, Deutschland, das Russische Reich oder Österreich-Ungarn arbeiteten hier Hand in Hand. Die k.u.k. Monarchie nahm dabei eine führende Rolle ein, und es verwundert nicht, dass wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg der Polizeipräsident (und spätere Bundeskanzler) Johannes Schober auch Präsident der Interpol wurde. Moderne Fahndungsmethoden wie Fingerabdrücke (Daktyloskopie) wurden in Wien entscheidend weiterentwickelt und fanden im Kampf gegen die Mädchenhändlerringe ihre erste große Bewährung.

Doch es war ein Kampf, der schlussendlich nicht zu gewinnen war. Die Mädchenhändlerringe konnten aus einem schier nie enden wollenden Reservoir schöpfen. Mit enormen fahndungstechnischen Methoden wurden Mädchenhändlerringe über den halben Erdball gejagt, um schließlich doch vor den als Scheinfirmen, Tanz- und Vergnügungsorganisationen oder gar als philanthropische Jugendeinrichtungen getarnten Verbindungen zumeist zu kapitulieren.

So gesehen versteht sich der Kriminalroman „Traite des Blanches“ als ein lebendiges Abbild österreichischer und europäischer Geschichte. Zeitlos blieb das Thema ja bis heute. Leider.

Johannes Schönner

Traite des Blanches. Mädchenhandel.

Berenkamp Verlag, 364 S., 12,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.