Zwei Wiener Historiker erforschten die Schicksale der Österreicher während der großen Säuberung. Der Paragraf "antisowjetische Agitation" reichte 1936/37 für den Gulag oder gleich für den Genickschuss.
Hätten wir den Menschen nur – ein Paragraf wird sich schon finden!“
Eine russische Redensart. Eine, die tödlich sein kann. In Josef Stalins Sowjetdiktatur wurde dies aberhunderttausendfach durchexerziert. Unter den Opfern von Stalins Verfolgungswahn befanden sich auch viele Österreicher; gläubige Kommunisten, vor Dollfuß und Schuschnigg geflohene sozialdemokratische Schutzbündler. Doch welchen Grund konnte man für die Massenverhaftungen anführen? Es fand sich der „passende Paragraf“: § 58 (6) des sowjetischen Strafgesetzes – Spionage. Oft wurde auch noch § 58 (10) hinzugefügt – „antisowjetische Agitation“.
In siebenjähriger Arbeit hat der Wiener Historiker Barry McLoughlin gemeinsam mit Josef Vogl, unterstützt vom Dokumentationsarchiv des Widerstandes, ein mehr als 600-seitiges Gedenkbuch erstellt.
Der gebürtige Ire, der an der Uni Wien lehrt, hat sich bereits mehrfach mit Stalins Todesmaschinerie beschäftigt. Aber derart penibel und dermaßen gut illustriert war noch keine Arbeit darüber hierzulande. Den Schwerpunkt bilden die Biografien von 769 Opfern der Verhaftungen.
Geklärt ist nun erstmals auch das Schicksal jener dreißig österreichischen Freiwilligen, die sich zu Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion als politische Emigranten in Moskau für ein Sonderkommando der Roten Armee gemeldet hatten.
Die Verräter saßen in Moskau
Als Fallschirmspringer wurden sie nach London gebracht, um von dort nach scharfem militärischen Drill mit britischen Flugzeugen in der „Ostmark“ zu landen, um Sabotage zu betreiben. Für die meisten Agenten endete das Abenteuer tödlich. Vier von ihnen verweigerten den riskanten Einsatz und wurden trotz heftiger Gegenwehr und eines Selbstmordversuchs den Sowjets übergeben. Die in Moskau residierenden österreichischen Top-Kommunisten Friedl Fürnberg und Johann Koplenig ließen sie dort ins Messer laufen, die Gruppe landete im Gulag. 1958 wurde einer der Überlebenden rehabilitiert und starb 1996 in Wien.
Das erste KPÖ-Opfer
Signifikant auch das Schicksal des Wieners Franz Koritschoner, Bankangestellter und KP-Funktionär, geboren 1892. Er ging 1928 nach Moskau, lehrte dort an der Leninschule, bis er 1936 als „Partei- und Volksfeind“ auf der Partei ausgeschlossen und dann von Stalins Geheimdienst verhaftet wurde – er sollte der erste prominente KPÖ-Mann sein. Wegen „antisowjetischer Agitation“ zu acht Jahren Haft verurteilt, wurde er 1941 der deutschen Gestapo ausgeliefert, die ihn nach Auschwitz verfrachtete. Zwei Tage später war Franz Koritschoner tot.
Der 52-jährige Buchdrucker Alois Ketzlik musste sogar zweimal den Weg zur Hinrichtungsstätte Butovo antreten. Zwischen August 1937 und November 1938 wurden hier 20.765 Menschen wie am Fließband vom Leben zum Tod gebracht. Der Massenmord („Massoperatsij“) lief auf Hochtouren. Den absoluten Rekord stellten die Henker am 28. Februar 1938 mit 502 vollstreckten Todesurteilen auf.
Da lebte Alois Ketzlik noch. Freilich längst in Todesangst. Der KPÖ-Funktionär kam am 9. August an die Reihe. Mit 120 zum Tode verurteilten Leidensgenossen karrte man ihn nach Butowo. McLoughlin: „Während sich das Erschießungskommando in einer Steinhütte mit Wodka stärkte, prüften andere Uniformierte die Daten der Todeskandidaten. Die Angaben im Strafakt samt Passfoto wurden mit dem Namen auf der Erschießungsliste verglichen. Da Ketzlik mit dem Namen Adolf statt Alois vorkam, zog man ihn wieder aus der Todesschlange heraus und brachte ihn zurück ins Taganka-Gefängnis. Am 20. August stimmte dann die Schreibweise, und Ketzlik verschwand in der Grube, die eine Planierraupe im Morgengrauen einebnete.“
Todesengel in Richterrobe
Wie Roland Freisler im Dritten Reich war Andrei Wyschinski ein Todesengel in Richterrobe: ein Schauspieler, ein tobender Ankläger, ein eiskalter Schreibtischmörder. Seine Arbeit war leicht. Die Vernehmungsprotokolle lagen vor, die Zeugenaussagen auch, die Geständnisse der Angeklagten genauso. Der letzte Akt war nur noch für die Medien und die ausgesuchten Zuhörer, das Urteil stand schon fest. Keiner der hier aufgebotenen Akteure fiel aus seiner Rolle. Es gab keine weinerlichen Appelle um Gnade vor Recht, keine Beschuldigten, die unter der Last der Anklage zusammenbrachen. Nein, völlig sachlich brachten die Angeklagten vor, wie sie die Volkswirtschaft sabotierten bzw. den geliebten Stalin ermorden wollten.
„Schädlinge“ mussten ausgerottet werden
Offiziere mussten ebenso dran glauben wie Wissenschaftler, sogar die Führungsspitze der Schwerindustrie und der Eisenbahnen wurde wegen „Schädlingstätigkeit“ verurteilt und noch am gleichen Abend exekutiert. Und warum? Es war Stalins Ungeduld, sein Weltreich nach eigenem Geschmack umzugestalten. Denn die Kehrseite der Medaille ist ein ungeheuerliches Wachstum des Sowjetreiches, der Anfang einer Supermacht: Schulbau, Satellitenstädte, Motorisierung, Wasserkraftwerke, Alphabetisierung, Familienförderung, Gesundheitsoffensive.
Auf dem Schießplatz Butowo außerhalb von Moskau arbeiteten die Vollstrecker im Dauereinsatz. Wie McLoughlin erforschte, sind dort 15.036 Personen verscharrt, am Donskoje-Friedhof 5068. Das ist nur ein winziger Teil der im Moskauer Gebiet umgebrachten Sowjetmenschen („Die Welt bis gestern“ hat darüber berichtet). Auf dem Kalitnikowskoje-Friedhof in der Nähe des Moskauer Fleischkombinats sollen immer Hunde mit menschlichen Gliedmaßen im Maul beobachtet worden sein.
Erst seit der Öffnung lösen sich auch die Zungen der überlebenden Unterdrückten, Versklavten und Verschleppten bzw. derer Familien. Nach vorsichtigen Schätzungen dürften 25 Millionen Sowjetbürger zwischen 1928 und 1953 Opfer des Regimes Josef Stalins geworden sein. Die beiden Daten markieren den Beginn der Parteiführung durch den Diktator und seinen Tod.
In seiner unheimlichen Logik, die gepaart war mit eisernem Willen und unbeschränkter Macht, witterte Stalin schon seit 1928 Gefahr für das kommunistische System durch die Bauern. So ließ er sie einfach verhungern. „Wenn der Kopf abgehackt ist, weint man nicht um die Haare“, spottete er damals.
Jeder achte Sowjetmensch wurde also entweder Opfer von Erschießungskommandos, oder er war Gulag-Häftling oder verbannt in eine Sondersiedlung in den Weiten Sibiriens. Nicht eingerechnet sind dabei die Millionen Toten durch Hungersnöte und die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.
Lesetipp:
Barry McLoughlin/Josef Vogl
„. . . ein Paragraf wird sich finden“
Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer (bis 1945)
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 621 Seiten, 24,50 Euro.
Nächsten Samstag:
Vorbereitungen auf das Gedenkjahr 2014
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2013)