Fall der Berliner Mauer: Treppenwitz der Weltgeschichte

(c) EPA (Stf)
  • Drucken

9. November 1989: Der Fall der Berliner Mauer – vom damaligen „Presse“-Korrespondenten geschildert. Es war anfangs ein reines Missverständnis des führenden DDR-Mannes und SED-Apparatschiks Günter Schabowski.

Berlin. Er war seit 1977 Deutschland-Korrespondent der „Presse“ in Bonn und Berlin: Ewald König, der einzige österreichische Journalist übrigens, der parallel in der BRD und in der DDR akkreditiert war. Der heutige Chefredakteur des Onlineportals EurActiv.de wohnte am berühmten 9. November 1989 als einziger österreichischer Journalist der legendären Schabowski-Pressekonferenz bei. Eher durch Zufall, wie er zugibt.

So läuft manchmal eben Weltgeschichte: Durch Zufall, denn auch der Fall der Berliner Mauer ist eher durch ein Missverständnis „passiert“, wie wir heute wissen.

Sein längster Tag . . .

König hatte eine kurze Nacht auf den 9. November, der Tag sollte noch sehr lang werden. Er begann nämlich in Schirnding an der tschechisch-bayrischen Grenze, erzählt der Journalist, „wo eine endlose Kolonne von Trabis und Wartburgs zehntausende DDR-Bürger in die Bundesrepublik brachte“. Todmüde kommt er abends in Berlin (Ost) an. Jetzt noch eine Pressekonferenz? Klingt öde: Die Sitzung des SED-Zentralkomitees.

„Kurz vor 18 Uhr wollte ich das Internationale Pressezentrum der DDR in der Mohrenstraße schon verlassen. Der Saal war dermaßen voll mit Kameraleuten, Fotografen und Redakteuren, kein Stuhl zum Sitzen, kein Platz zum Schreiben, keine Luft zum Atmen.“ Also, was soll's. Die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens würde schon das Wichtigste berichten.

Im IPZ in der Mohrenstraße wurden die Journalisten rundum betreut – weit mehr, als ihnen lieb war. Sie hatten dort ein Postamt, ein Restaurant, konnten sich Telefonverbindungen vermitteln lassen oder Interview- und Reiseanträge. Und alles, was gesprochen wurde, ist von der Stasi lückenlos abgehört worden, schildert König.
„Beim Weggehen im Treppenhaus muss ich plötzlich Platz machen. Günter Schabowski und seine Entourage kommen mir flott die Stufen entgegen und reißen mich förmlich mit. Okay, wenn ich schon da bin . . .“

Dass es gar nicht langweilig werden würde, kann er nicht ahnen. Günter Schabowski (60) ist ein eloquenter, nicht unsympathischer, aber durch und durch linientreuer Spitzenfunktionär der DDR. Zeitweise wird er als möglicher Nachfolger Erich Honeckers für die Position des Parteichefs genannt.

Schabowski fängt an wie befürchtet. Im Zentralkomitee gebe es großes Bedürfnis der Redner, sich zur Erneuerung der Parteipolitik und den Gründen hierfür zu äußern; . . . deren Ton sei kritisch und selbstkritisch . . . Das ZK habe damit ein bedeutendes Zeichen gesetzt für seinen Anspruch auf die Führungsautorität der Partei . . . Und so weiter.

Es ist Riccardo Ehrman, Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa, vorn am Rand des Podiums hockend, der das Thema Reisegesetz ins Spiel bringt. Erst um 18.53 Uhr kommt er an die Reihe: „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, dieser Reisegesetzentwurf, den Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“

Ewald König: „Da nestelt Schabowski aus seiner Jackentasche einen Zettel heraus. Fast nebenbei. Einen Entwurf für eine Pressemitteilung über den Beschluss des Ministerrates zur Überarbeitung des Reisegesetzes. Er hat sichtlich keine Ahnung, welchen Sprengstoff er auf dem Zettel stehen hat. Unbeabsichtigt und umständlich erklärt er die Mauer praktisch für geöffnet.

Er stottert verunsichert herum, bringt keinen vollständigen Satz heraus. Schon wie er kompliziert anfängt: ,Aus dem Entwurf des neuen Reisegesetzes wird der Passus herausgenommen und in Kraft treten, also die ständige, wie man so sagt, die ständige Ausreiseregelung, also das Verlassen der Republik‘ und so weiter und so fort. ,Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden, und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.‘“

Der überfüllte Saal ist elektrisch geladen. Als Schabowski die verblüffte Reaktion bemerkt, fügt er nach kurzer Pause der Ratlosigkeit hinzu: „Also ich weiß nicht, mir ist mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet wurde. Sie müsste eigentlich schon in Ihrem Besitz sein.“

Kein einziger Journalist hat vorher das Papier gesehen. Der Zettel wurde ihm von Egon Krenz zugesteckt, bevor er in die Pressekonferenz ging. König: „Es ist ein paar Minuten vor Ende der Pressekonferenz. Ohne Ehrmans Reisegesetz-Frage hätte Schabowski vielleicht gar nicht mehr an den Zettel gedacht, den er zugesteckt bekommen hatte.“

„Das ist sofort – unverzüglich“

Die konkrete Nachfrage jedoch kommt vom damaligen „Bild“-Korrespondenten Peter Brinkmann aus der ersten Reihe: „Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“ Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“

Gleich darauf beendet Schabowski die Pressekonferenz, die seiner Kontrolle entglitten ist. Die Konsequenzen seiner Ausführungen sind ihm selbst nicht voll bewusst. Sonst wäre er nicht anschließend nach Wandlitz heimgefahren, ins noble, streng bewachte Wohnghetto der DDR-Führung.

„Ich bin sicher, dass nicht nur Schabowski selbst, sondern auch die Zeitungskollegen nicht sofort kapiert haben, was da genau passiert war“, erinnert sich König. Auch in der „Heute“-Sendung des ZDF und in der „Aktuellen Kamera“ wurde noch unspektakulär berichtet, dass künftig auch Privatreisen ins Ausland mit Antrag, aber ohne Angabe von Gründen, möglich würden. Erst die „Tagesschau“ um 20 Uhr half mit der Spitzenmeldung „DDR öffnet Grenze“ plötzlich kräftig nach.

Da weit hinten stehend, rannte König als einer der Ersten aus dem Saal, hinunter ins Erdgeschoß zu den Telefonzellen. Die Telefonistinnen versuchten, nach Wien durchzukommen, „es glich einer halbe Ewigkeit“. Keine Chance bei diesen hoffnungslos überlasteten alten Telefonleitungen. Es kam keine Verbindung nach Wien zustande. Spätnachts bekam er wie zum Hohn eine Nachricht ausgehändigt: „Die Redaktion in Wien bittet dringend um Rückruf!“ Da hatte sie schon eine Sonderausgabe für den Raum Wien aus dem Boden gestampft . . .

„Das wird ein Knüller!“

Ein Jahr nach seiner legendären Pressekonferenz, die der europäischen Geschichte eine scharfe Wendung gab, interviewte Ewald König Günter Schabowski noch einmal für die „Presse“, wobei der einst so Mächtige um 200 D-Mark „Informationshonorar“ bat. Was also war damals geschehen? Schabowski: „Ich war gerade nicht im Zentralkomitee, ich hatte mit Journalisten zu tun. Kurz vor 18 Uhr kam ich wieder in die Beratung und fragte, ob für die Pressekonferenz noch irgendetwas mitteilenswert wäre. Da gab mir Krenz die Vorlage: ,Nimm das gleich mit, das wird ein Knüller.‘“ Das Politbüro-Mitglied nahm – und setzte sich damit aufs Podium.

Das Ganze war nur ein Entwurf

Schabowski weiter: „Zu Beginn der Pressekonferenz überflog ich das Papier und sah den Begriff ,Privatreise‘ als wichtigen Punkt. Ich verlegte die Information aber an den Schluss der Pressekonferenz, weil ich ja eigentlich über die ZK-Tagung zu informieren hatte. Ich erfuhr erst später, dass dies noch gar keine Regierungsentscheidung war, sondern nur die Vorlage. Auch die Grenzer waren ja noch nicht einmal informiert gewesen.“ Ein Missverständnis also. „Für mich war es sonnenklar, dass das regierungsoffiziell sei. Das war der erste Irrtum.“

Der zweite Fehler sei gewesen, dass die entscheidenden Instanzen, also Innen-, Verteidigungs- und Staatssicherheitsministerium, nach Billigung durch die Regierung die Entscheidung erst um vier Uhr am nächsten Morgen mitteilen wollten. „Ich hatte ja nur den Text der Vorlage und musste mich an die Formulierung – nämlich ,ab sofort‘ – halten. In dem Augenblick empfand ich: Ich bin nicht nur der Mitteiler, ich bin auch der Inkraftsetzer.“

Wie ein Lauffeuer

Das wäre alles nicht so dramatisch gewesen, setzte Schabowski fort. „Aber jetzt kommt der dritte Irrtum: In der Stadt sind wir nicht richtig verstanden worden. Die Menschen haben ja völlig außer Acht gelassen, dass sie sich bei der Polizei den Stempel hätten holen müssen. Es verbreitete sich aber wie ein Lauffeuer, wir hätten uns zur Grenzöffnung entschlossen. Das Wann und Wie stand gar nicht mehr zur Debatte.“ – „Aber Sie waren doch auf der Pressekonferenz sichtlich überrascht, als Sie merkten, dass die Journalisten noch nichts von der Regelung gewusst haben?“, entgegnete der Journalist. „Nein. Ich wusste ja, dass ich der Erste bin, der sie davon informiert.“

„Und als die Mauer in der Nacht gestürmt wurde, was haben Sie da gedacht?“ – „Ich habe erst durch Anrufe davon erfahren, zu Hause in Wandlitz. Ich bin nach Berlin zurückgefahren und habe mir das angesehen. Ich befürchtete: Jetzt läuft die DDR aus. Als ich durch die Stadt fuhr, sah ich aber, dass die Stimmung sehr entspannt und fröhlich war. Anfangs hielten die Leute den Grenzern noch den Personalausweis hin. Das war eine große Erleichterung für mich. Ich sagte mir: Gottverdammt, wir haben doch recht gehabt, dass wir es riskiert haben. Die DDR geht nicht kaputt, die Leute gehen rüber und kommen wieder zurück. Ich hab den Krenz angerufen: Hör mal, die Sache läuft nicht schlecht für uns.“

„Der Test wurde nicht bestanden“

„Dass Sie kein Jahr danach Bundesdeutscher sind, hätten Sie sich damals nicht gedacht?“ – „Wenn das einer gesagt hätte, den hätte ich nicht für normal gehalten. Aber das trifft auch für Leute von der Bonner Regierung zu. Es war ja alles drin: Das, was dann draus geworden ist; aber auch die Variante, die wir geglaubt haben: größerer Vertrauensgewinn und internationaler Reputationsgewinn. Ungewollt wurde dieses System dem Wahrheitstest unterzogen, und es hat diesen Test nicht bestanden.“

„Greisenhafte Sicht der Dinge“

Dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker bescheinigte Schabowski „Unfähigkeit, politische Entwicklungen noch zu verstehen, und eine greisenhafte Sicht der Dinge, nach dem Motto ,Die ganze Welt ist außer Tritt, ich bin der Einzige, der im Gleichschritt ist‘. Das alles bestätigt nur, wie notwendig es war, dass wir ihn seinerzeit gestürzt haben.“

Zum Ende des Gesprächs fragte König ihn, was er jetzt beruflich mache. „Ich mache nichts beruflich. Ich habe keine Arbeit. Hat Ihre Zeitung einen Job für mich als Pförtner oder so? Ich muss ja sehen, wie ich meine Truppe hier durchkriege.“

Im Dezember 1999 trat er seine dreijährige Haftstrafe in Berlin-Hakenfelde an, zu der er wegen der Schüsse der Volkspolizei an der Berliner Mauer verurteilt worden war. Doch schon nach einem Jahr begnadigte ihn der damalige Bürgermeister, Eberhard Diepgen. Ein Jahr vor dem 20-Jahr-Jubiläum seiner Pressekonferenz und zum 80. Geburtstag übersiedelte Schabowski mit Ehefrau Irina von Berlin-Mitte in eine 80 Quadratmeter große Bleibe in der Zähringer Straße in Westberlin. „Das ist billiger und reicht uns.“ Bald darauf zog er sich völlig zurück und ließ niemanden mehr an sich heran.

Nächsten Samstag: Die Pogromnacht vom 9. November 1938 in Wien.

Der Autor

Der Zeitzeuge. Ewald König, geboren 1954, arbeitete von 1977 bis 2003 für die „Presse“, ab 1985 als Deutschland-Korrespondent in Bonn und Berlin. Mit der Distanz des politischen Korrespondenten und der Neugier des Lokalreporters führt sein Buch durch die aufregendsten Momente der Jahre 1989/90. Als Zeitzeuge des Zusammenbruchs der DDR und Chronist tragischer, skurriler und teils unbekannter Ereignisse beschreibt er, wie sich die Deutschen vor einem Vierteljahrhundert wiedervereinigten.
Das Buch von Ewald König, „Menschen Mauer Mythen – Deutsch-deutsche Notizen eines Wiener Korrespondenten“ (Mitteldeutscher Verlag Halle, 256 Seiten, 15,40 Euro), wurde am Freitag in der österreichischen Botschaft in Berlin vorgestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.