Lee Harvey Oswald: Der Mann, der JFK tötete

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Als ungeliebter Jugendlicher ohne Vater und gescheiterter Soldat entflammte Lee Harvey Oswald für den Kommunismus. Sein fast dreijähriger Aufenthalt in der UdSSR war jedoch eine herbe Enttäuschung.

Am Morgen des 16. Oktober 1959 um 8.55 Uhr stieg ein 19-jähriger Amerikaner in Moskaus Leningrader Bahnhof aus dem Zug. Die Mühsal der fast 19-stündigen Fahrt aus Helsinki im spartanischen Abteil der sowjetischen Staatsbahnen hatte er ohne Murren auf sich genommen; sein Ziel stand fest: „Ich will und ich werde hier in der Sowjetunion ein normales glückliches und friedliches Leben führen“, schrieb Lee Harvey Oswald seinem Bruder Robert einige Wochen nach der Ankunft.

Oswald machte klar, dass er mit den USA und all dem, was die bisherigen 19 Jahre seines Lebens bestimmt hatte, nichts mehr zu tun haben wollte: „Meine Mutter und du, ihr seid keine Objekte der Zuneigung, sondern bloß Beispiele für Arbeiter in den USA. Im Fall eines Krieges würde ich jeden Amerikaner töten, der zur Verteidigung der amerikanischen Regierung eine Uniform anzieht – jeden Amerikaner.“

So begann der knapp dreijährige Aufenthalt von Lee Harvey Oswald in der UdSSR. Nie in seinem Leben sollte er, dessen Vater vor seiner Geburt verstorben war und dessen rastlose Mutter mit ihm zwei Dutzend Mal umgezogen war, so lange an einem Ort verbringen wie hier. Nie in seinem Leben sollte er der Stillung seiner großen Sehnsucht so nahekommen: einem Zuhause, einer Familie, einem sinnerfüllten Schaffen; die knapp drei Jahre als US-Marine waren von Enttäuschungen und Disziplinarstrafen durchzogen gewesen. Nie allerdings sollte er so bitter enttäuscht werden wie in der UdSSR: Der real existierende Sozialismus war unter Nikita Chruschtschow von seinen feurigen bolschewistischen Anfängen in eine spießbürgerliche Bürokratie geglitten, in der niemand seinem Nachbarn traute. „Ich war wirklich der naive Amerikaner, der an den Kommunismus glaubte“, sollte Oswald im Juni 1962 während der Schifffahrt von den Niederlanden zurück nach New York schreiben. Nach langem Bitten und Betteln hatte die US-Botschaft in Moskau seine Ausreise aus der UdSSR arrangiert. „Ich werde mich nie wieder bewusst oder unbewusst an jemanden verkaufen“, schloss er verbittert.

Falscher Ort, falsche Zeit. Diese knapp 32 Monate in Moskau und Minsk sind entscheidend, wenn man zu ergründen versucht, wie aus einem naiven Jugendlichen der Mörder von John F. Kennedy werden konnte. „Wenn man Oswald verstehen will, muss man seine Zeit in der Sowjetunion unter die Lupe nehmen“, sagt Peter Savodnik. Der amerikanische Russland-Experte hat für sein Buch „The Interloper“ (Basic Books, 2013) in den beiden Städten die Spuren von Oswalds sowjetischem Abenteuer verfolgt. Er hat mit rund zwei Dutzend Menschen gesprochen, die Oswald persönlich kannten: Geheimdienstler, Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannte.

Oswald stellte von dem Moment an ein handfestes Problem für die Sowjets dar, als er im Oktober 1959 den Moskauer Bahnsteig betrat. Denn zwischen dem Kreml und Washington war kurz zuvor ein politisches Tauwetter aufgezogen. Nur 19 Tage vor Oswalds Ankunft war Chruschtschow von seinem ersten Staatsbesuch in den USA zurückgekehrt. Mit Präsident Dwight D. Eisenhower verstand er sich, die Lösung des Konflikts um das geteilte Berlin schien greifbar. Zugleich wurde Chruschtschow bewusst, wie weit die sozialistischen Lebensverhältnisse hinter jenen des kapitalistischen Erzfeindes zurücklagen. Er bemühte sich fortan, die außenpolitischen Spannungen zu verringern und sich auf die wirtschaftliche Entwicklung der Heimat zu konzentrieren. In dieser UdSSR, die nach drei Jahrzehnten stalinistischen Terrors vorsichtig aufatmete, war der hitzköpfige junge Amerikaner mit seinen revolutionären Parolen fremd.

Der KGB war ratlos. Und so wussten die Sowjets nie so recht, was er mit diesem seltsamen Überläufer anfangen sollten. Oswalds Ansuchen um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung wurde abgelehnt: Verzweifelt schnitt er sich in seinem Moskauer Hotelzimmer die Pulsadern auf. Der Kreml war alarmiert, sagt Savodnik: „Der KGB und das Politbüro waren sehr besorgt um gute Beziehungen zu Washington. Ein toter Ex-Marine in Moskau wäre ein großes Problem gewesen.“

Um Oswald von Kontakten mit ausländischen Korrespondenten und Diplomaten abzuschirmen, schickten sie ihn in die Provinz nach Minsk und versorgten ihn mit Wohnung und Arbeitsstelle in der Versuchsabteilung der Minsker Radiofabrik. Dort spannen sie ihn in ein Geflecht von Bekanntschaften und Beziehungen ein, das man in der Sowjetwelt „Kolpak“ nannte, eine „Decke“ oder „Hülle“. Der KGB schneiderte eine Lebenswelt, in der sich Oswald geborgen fühlte – unwissend, dass so gut wie jeder seiner Bekannten an den KGB berichtete, seine Frau Marina ebenso wie sein Russischlehrer Stanislaw Schuschkewitsch, der Jahrzehnte später, am 8. Dezember 1991, als erster Präsident Weißrusslands mit seinen russischen und ukrainischen Amtskollegen Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk das Ende der UdSSR besiegeln sollte.

Von der Verschwörungstheorie, der KGB habe Oswald als gehirngewaschenen Killer in die USA zurückgeschickt, hält Savodnik nichts: „Der KGB hatte mit dem Attentat nichts zu.“ Vielmehr sei Oswald ein zutiefst amerikanischer Antiheld gewesen: „Seine Wut, seine Naivität und sein Narzissmus waren Ausdruck eines klassischen amerikanischen Individualismus.“ Der führte ihn am 22. November 1963 in den sechsten Stock des Schulbuchlagers von Dallas – und in die Geschichtsbücher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2013)

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