Der lange Schatten des Totalitarismus

Kommunistische Erblast: Die Mutter-Heimat-Statue in Kiew, errichtete 1981, erinnert an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.
Kommunistische Erblast: Die Mutter-Heimat-Statue in Kiew, errichtete 1981, erinnert an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.(c) REUTERS (© Gleb Garanich / Reuters)
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Die demokratischen Rückschritte in zahlreichen osteuropäischen Ländern sind eine Folge der nicht aufgearbeiteten faschistischen und stalinistischen Vergangenheit, sagt die Historikerin Marci Shore im „Presse“-Gespräch.

In der Ukraine: Aufstand der Massen gegen das Ancien Régime. In Ungarn: Faschistische Milizen auf den Straßen. In der Slowakei: Ein Neonazi an der Spitze der Regionalverwaltung von Banska Bystrica. In Rumänien: Wende-Kommunisten, die sich „Sozialdemokraten“ nennen, zurück an der Macht. In Bulgarien: monatelange Unruhen. In Polen: Eine noch vor Kurzem international gelobte Reformregierung im Gegenwind der Nationalisten. In Tschechien: Eine Präsidentenwahl, in der letztlich die chauvinistische Trumpfkarte der Beneš-Dekrete den Ausschlag gibt. Überall in Osteuropa, scheint es, sind die Errungenschaften der Wende von 1989 in Gefahr. Die Fratzen der totalitären Vergangenheit erheben sich in ihren kommunistischen und faschistischen Ausformungen beinahe überall vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Was ist da los?

Mit dieser Frage befasst sich die Historikerin Marci Shore seit über zwei Jahrzehnten. Im Sommer 1993 reiste sie als junge Studentin erstmals nach Osteuropa, um die politische Wende aus der Nähe zu erforschen. Sie lernte Polnisch, Tschechisch und Jiddisch, verbrachte unzählige Stunden in erst kürzlich geöffneten Archiven in Warschau, Prag und Bukarest, unterrichtete Englisch an einer Mittelschule in einer tschechischen Provinzstadt, übersetzte die Memoiren des Holocaust-Überlebenden Michał Głowiński erstmals auf Englisch. All diese Erfahrungen hat Shore in ihrem Buch „The Taste of Ashes: The Afterlife of Totalitarianism“ zusammengefasst.

„Ich kam nach Osteuropa, um eine Geschichte zu hören, die glücklich ausging“, schreibt sie. Doch je mehr sie sich mit der Wende befasste, desto klarer wurde ihr, dass man 1989 nicht verstehen kann, ohne 1968 studiert zu haben; und 1956; und 1948; und 1944; und all die anderen Daten, die zum Verständnis der politischen und intellektuellen Geschichte Osteuropas bedeutsam sind.

Die existenzielle Leere des Liberalismus

Der Ausblick auf eine Renaissance des nationalistischen Chauvinismus in Mittel- und Osteuropa mache ihr große Sorgen, sagt Shore im Gespräch mit der „Presse“. „1989 gab es kein Ende der Geschichte. 1989 war nicht der Triumph des Liberalismus, sondern die Niederlage des Kommunismus. Die kam aber nicht, weil alle plötzlich das Licht des westlichen Liberalismus sahen. Es gibt noch immer das Bedürfnis nach moralischer Klarheit, das der Liberalismus nicht erfüllen kann.“ Shore, die mit dem bedeuteten Osteuropa-Historiker Timothy Snyder verheiratet ist, verweist auf die meisterhafte Studie von Carl Schorske über Wien zur Jahrhundertwende. „Schorske hielt fest, dass der Liberalismus in die Krise kam, weil er sich als emotional unbefriedigend herausstellte. Er spricht die dunklere Seite des Menschen nicht an. Es reicht nicht, bloß zu sagen: Wir haben uns vom Marxismus und vom Faschismus abgewendet und leben jetzt in einer hyper-rationalen Welt. Die Menschen brauchen Mythen, um dem Leben Sinn zu verleihen." Der Liberalismus, meint Shore, sei existenziell zu dünn – vor allem, um die Last des Fluchs einer totalitären Vergangenheit zu tragen. „Das ist im postkommunistischen Osteuropa evident.“

Shore verweist zudem auf den Umstand, dass so gut wie alle früher kommunistisch regierten Staaten nach 1989 kaum Zeit für eine differenzierte Analyse der Zeit vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der roten Regime 50 Jahre danach aufgewendet haben. „Der gesunde Zugang zur Vergangenheit ist nicht zu sagen: Da draußen sind böse Menschen, die uns etwas antun wollen, also müssen wir uns verteidigen“, sagt Shore. „Sondern man muss sagen, dass es bestimmte Umstände gibt, die das Verhalten der meisten Leute auf eine Weise beeinflussen, die wir entsetzlich finden, denen wir aber auch ziemlich leicht zum Opfer fallen könnten.“ Shore erinnert an die polnische Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska, die sagte: „Wir kennen uns nur insofern, wie wir geprüft worden sind.“

Die stalinistische Schuld

Szymborska ist beispielhaft für die moralischen Zwangslagen, denen Menschen vor allem im Stalinismus ausgesetzt waren. Sie war jahrelang eine ergebene Stalinistin, verfasste Lobhudeleien auf die Partei und ihre Führer. Nach 1945 waren es oft die ursprünglich redlichsten und klügsten Intellektuellen, die sich zu unterwürfigen Apologeten des stalinistischen Terrors erniedrigten. Im Westen wird nämlich oft übersehen, dass diese Männer und Frauen der Roten Armee und Stalin ihr Überleben verdankten. Übersehen wird allerdings auch, dass viele dieser jungen Stalinisten in den 1960er-Jahren zu den schärfsten Kritikern des Kommunismus wurden; man denke zum Beispiel an den Philosophen Leszek Kołakowski.

Shore hat allerdings Hoffnung für die Zukunft Osteuropas: „Die jüngeren Menschen, die nicht von diesem System geformt wurden, sind von der Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Überlegenheitsgehabe der Älteren großteils frei.“

DIE AUTORIN

Marci Shore unterrichtet und erforscht europäische Geistesgeschichte an der Yale-Universität. Ihr Buch „The Taste of Ashes: The Afterlife of Totalitarianism in Eastern Europe“ ist bei Crown Publishers (New York) erschienen. [ Ine Gundersveen]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2013)

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