Erster Weltkrieg: Das Ende der ersten Globalisierung

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Der Erste Weltkrieg war nicht nur die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er beendete auch die erste Phase einer stark vernetzten Weltwirtschaft zur Jahrhundertwende.

Der Begriff Globalisierung taucht erst seit den 1980ern verstärkt auf. Doch eine global vernetzte Welt ist keine Erfindung der Jahrtausendwende. Schon hundert Jahre zuvor war die Erde das erste Mal „kleiner geworden“. Es war dies eine Zeit, die zwar durch Imperialismus und Kolonialismus die oft gewaltsame Unterwerfung vieler Weltregionen brachte. Es war aber auch eine Zeit, in der Dampfschiffe, Lokomotiven und Telegrafie in Kombination mit Freihandel der Menschheit innerhalb weniger Jahre zuvor ungeahnte Möglichkeiten und Wohlstand brachten. Bis diese Entwicklung dann durch den Ausbruch des ersten „Stahlgewitters“ im Jahr 1914 jäh gestoppt wurde.

Die erste Globalisierung war vor allem auch eine große Zeit für Europa. So dehnten die europäischen Mächte ihre Verfügungsgewalt über außereuropäische Territorien zwischen 1800 und 1900 um fast das Zehnfache der Fläche Europas aus. Möglich geworden war dies vor allem dank des technischen Fortschritts. Mit der Erfindung der Dampfmaschine lösten sich die Länder Europas immer stärker von der Landwirtschaft. Sie setzten auf die Erzeugung verarbeiteter Güter als Haupteinnahmequelle.

Da für die Herstellung dieser Güter immer größere Mengen an Rohstoffen gebraucht wurden, verzahnte sich sukzessive der Warenaustausch mit den großen agrarisch geprägten Gebieten in Übersee. Laut Schätzungen steigerte sich der Wert des Welthandels zwischen 1790 und 1913 um das Fünfzigfache. Baumwolle, Erze und zunehmend auch Getreide und Fleisch wurden aus Amerika, Asien oder Australien nach Europa transportiert – Kleidung, Maschinen oder Eisenbahnschienen traten auf denselben Schiffen den Rückweg an.

Vorreiter dieser Entwicklung war Großbritannien, wo auch die industrielle Revolution ihren Ausgang genommen hatte. Die Briten waren nicht nur schneller und größer als andere Nationen, sie waren auch kompromissloser in ihrem liberalen Zugang. Während sich die USA noch hinter Zollschranken verbargen und Frankreich sowie Deutschland staatlichen Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen behielten, setzte man in London auf laissez faire. Dies führte so weit, dass Großbritannien sogar die Fähigkeit verlor, seine Bürger aus eigener Kraft zu ernähren. Dank des globalen Handels war dies aber kein Problem. So war es für die britischen Schafzüchter billiger, Weizen aus Australien zu verfüttern, als ihn selbst anzubauen. Und auch Fleisch wurde nach der Erfindung des Kühlschrankes in immer größerem Stil importiert. So steigerten die USA ihre Exporte von 50 Tonnen im Jahr 1870 auf 65.000 Tonnen im Jahr 1900.

Made in England. Großbritannien galt zu dieser Zeit als die Werkstatt der Welt. Ein Drittel aller weltweit produzierten Waren stammte 1870 aus den Industriebetrieben zwischen Southampton und Manchester. Doch Frankreich und Deutschland holten schnell auf. Zusammen beherrschten diese drei Nationen auch den Welthandel. Fast drei Viertel aller weltweit verschifften Produkte stammten aus oder landeten in ihnen. Die USA wuchsen zwar aufgrund ihrer schieren Größe ebenfalls stetig und waren bei der Produktion den europäischen Mächten vor dem Ausbruch des Krieges nahezu ebenbürtig. Aufgrund ihrer protektionistischen Politik spielten sie im Welthandel aber eine untergeordnete Rolle.

Auch die Habsburgermonarchie konnte aufgrund ihrer starken agrarischen Ausprägung nie in das Konzert der großen Industrienationen einstimmen. Zwar gab es in Böhmen sowie in der Gegend um Wien ebenfalls eine starke Industrialisierung. In Summe blieb Österreich-Ungarn aber ein wirtschaftlich eher schwach aufgestellter und von inneren politischen Spannungen gelähmter regionaler Spieler.

Die wirtschaftliche Verzahnung mit der Welt sorgte für eine drastische Verbesserung des Lebensstandards der Europäer. Zucker, Tabak oder Kakao – Waren die noch Jahrzehnte zuvor nur einer Handvoll Aristokraten zur Verfügung standen, waren plötzlich auch für Bürger leistbar. Gleichzeitig stieg die gegenseitige Abhängigkeit: Ohne den Austausch von Waren und Kapital konnten die wirtschaftlichen Systeme nicht aufrechterhalten werden.
Dies hinderte aber gerade die Bürger Europas nicht daran, sich zunehmend in Nationalismus zu versteifen, weshalb aus dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger ein Flächenbrand entstand. Der Krieg forderte nicht nur einen hohen Blutzoll, auch wirtschaftlich bekam Europa die Rechnung präsentiert: Obwohl die Länder und somit auch die Produktionsstätten großteils unversehrt geblieben waren, brach die Produktion gegenüber 1913 um ein Viertel ein. Hart getroffen waren naturgemäß die Verlierer Deutschland und Österreich, in denen die Industrieproduktion sogar um knapp 60 Prozent absank und die Volkswirtschaft in einem Strudel aus Chaos und Inflation versank.

Aber auch die europäischen Siegermächte Großbritannien und Frankreich kämpften nach dem Krieg mit Überkapazitäten und einer von rund drei auf über zehn Prozent angestiegenen Arbeitslosigkeit. Doch obwohl die Briten bei ihrer Industrieproduktion bereits Mitte der 1920er wieder die Werte von 1913 übertreffen konnten, blieb der Verlust der einstiegen Macht nachhaltig. Durch den einsetzenden allgemeinen Protektionismus konnte England nie wieder zu seiner einstigen Führungsrolle aufschließen. Diese Funktion übernahmen nun die USA.

Noch drastischer war die Situation in Deutschland. Nur dank amerikanischer Kapitalimporte konnten die Reparationszahlungen finanziert werden. Als diese nach dem US-Börsencrash Ende der 1920er-Jahre ausblieben, fiel auch Deutschland in die wirtschaftliche Depression. Eine Situation, die von politischen Verführern ausgenutzt wurde – was zur wohl größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts führte.

Fakten

Drei Viertel der gesamten global gehandelten Waren stammten oder landeten vor Ausbruch des Krieges in Großbritannien, Deutschland oder Frankreich.
Nach dem Krieg fiel die gesamte Industrieproduktion in Europa um ein Viertel. In Deutschland und Österreich sogar um 60 Prozent.
1929 lag die europäische Produktion zwar wieder 28 Prozent über dem Wert von 1913, jene der USA jedoch um 81 Prozent.
Die Reallöhne lagen 1929 in den USA um zwei Drittel über jenen von 1913. In Großbritannien hingegen nur um sechs Prozent, in Deutschland um ein Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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