Deserteure: NS-Urteile werden aufgehoben

Der 2. Weltkrieg - Hitlers Blitzkriege', 'Aus der ORF-Reihe ´Menschen & Mächte: am 11.11.2009 auf 3sat.
Der 2. Weltkrieg - Hitlers Blitzkriege', 'Aus der ORF-Reihe ´Menschen & Mächte: am 11.11.2009 auf 3sat.(c) ORF
  • Drucken

SPÖ und ÖVP einigten sich mit den Grünen auf die Aufhebung zahlreicher NS-Urteile und eine Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure. Die ÖVP gab ihren Widerstand gegen eine pauschale Regelung auf.

WIEN. Es war eine ungewöhnliche Besetzung. Es war eine ungewöhnliche Wortwahl. Als Justizministerin Claudia Bandion-Ortner am Mittwochnachmittag die Einigung zum sogenannten Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz bekannt gab, wurde sie nicht nur von den Justizsprechern der Koalitionsparteien (Hannes Jarolim SPÖ; Heribert Donnerbauer; ÖVP) flankiert, sondern auch vom Justizsprecher der Grünen, Albert Steinhauser.

Mit ihm hatten sich die Experten des Justizressorts auf einen gemeinsamen Antrag auf Aufhebung aller NS-Unrechtsurteile geeinigt. Den Kompromiss verkündete Bandion-Ortner so: „Es ist Zeit, es ist Zeit, 70 Jahre seit Beginn des Zweiten Weltkriegs alle Urteile des NS-Unrechtsregimes zu beseitigen.“ Der Einigung waren Sitzungen am Dienstagabend und eine teilweise emotional geführte Debatte vorausgegangen. Gestern wurde der Entwurf im Justizausschuss des Nationalrats abgesegnet. Der Beschluss im Plenum soll noch in diesem Monat erfolgen.

Kern der Diskussion: Soll bei der Aufhebung von Urteilen wegen Desertionen jeder einzelne Fall geprüft werden oder nicht? Oder sollen wie in Deutschland pauschal alle derartigen Urteile aufgehoben werden? FPÖ und BZÖ waren und sind strikt gegen eine pauschale Aufhebung. Die ÖVP hatte anfangs ebenfalls Bedenken: Es gelte sicherzustellen, dass nicht etwa Mord an einem Vorgesetzten oder Kameraden straflos gestellt werde. Historiker wiesen darauf hin, dass nur in ganz wenigen Fällen solche Tötungsdelikte stattgefunden hätten. Laut Auskunft des Justizministeriums gebe es überhaupt nur zwei.

In der emotional geführten Debatte, die vor allem Heinz-Christian Strache sofort mit markigen Sprüchen besetzte, ging beinahe unter, dass noch ganz andere Urteile der NS-Zeit explizit nie aufgehoben wurden. Wie Bandion-Ortner schon am Mittwochvormittag in einem Hintergrundgespräch vor Journalisten ausgeführt hatte, waren Urteile gegen Deserteure nach 1945 theoretisch ohnehin schon beseitigt worden, wenn auch nicht unter diesem Namen. Mit dem nun vereinbarten gemeinsamen Antrag sollen gleichzeitig Verurteilungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen aufgehoben werden. Dabei gibt es jedoch eine Einzelfallprüfung, die der „Versöhnungsbeirat“ durchführen soll, der dem zuständigen Landesgericht Wien beratend zur Seite stehen wird. Denn Verurteilungen wegen Unzucht mit Minderjährigen und sexueller Nötigung bleiben aufrecht. Bandion-Ortner betonte, dass nur Urteile mit NS-Unrechtsgehalt aufgehoben würden, also etwa nicht eine Verurteilung wegen Raub oder Mord aus Eifersucht. Klar unter NS-Unrechtsgehalt fallen demnach: alle Urteile des Volksgerichtshofs, der Standesgerichte und der Sondergerichte. Weiters die Sprüche des Erbgesundheitsgerichts, das Zwangssterilisierungen und -abtreibungen bewirkt hat. Erstmals werden auch Urteile gegen ausländische Staatsbürger – etwa verschleppte Zwangsarbeiter – aufgehoben.

Anerkennungsgesetz 2005

Mit dem "Anerkennungsgesetz 2005" verwies die schwarz-orange Koalition auf das NS-Aufhebungs- und Einstellungsgesetz 1945 und auf die "Befreiungsamnestie" 1946 und stellte klar, dass mit diesen Gesetzen alle Urteile von NS-Gerichten gegen Österreicher aufgehoben wurden, wenn diese "als Ausdruck typisch nationalsozialistischen Unrechts zu betrachten sind".

Damit wurden allerdings weder die Urteile der "Gesundheitsgerichte" über die Zwangssterilisationen noch jene der NS-Justiz gegen Homosexuelle aufgehoben - letzteres deshalb, weil Homosexualität auch nach den vor 1938 und nach 1945 geltenden österreichischen Gesetzen strafbar war.

„Wer deutschen Rock trägt“

In der symbolischen Rehabilitierungsklausel werden explizit Widerstandskämpfer, Deserteure und „Kriegsverräter“ genannt, die „Achtungs- und Mitgefühlsklausel“ richtet sich an alle politisch Verfolgten und „Heimatverräter“.

Die Justizministerin bedankte sich ausdrücklich bei den Grünen für Engagement und Kompromiss: Deren Justizsprecher Steinhauser meinte, es müsse schon etwas Außergewöhnliches passieren, wenn Regierung und Opposition gemeinsam an die Öffentlichkeit treten. Es zeige sich damit, wer sich der Geschichte stelle und „wer noch den deutschen Waffenrock trägt“, so Steinhauser in Richtung FPÖ und BZÖ.

In den Erläuterungen wird auf eine Entschließung des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 1997 verwiesen, die von Bandion-Ortner explizit erwähnt wurde. Darin heißt es: „Die Rehabilitierung auch von Deserteuren bedeutet keine Abwertung der Soldaten. Die meisten Soldaten wollten die Pflicht erfüllen, die sie ihrem Vaterland zu schulden glaubten, oder sie sahen keine Möglichkeit, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Was ein Soldat tut, ist nicht zu lösen von Zielsetzung und Moral seiner Führung. Vaterlandsliebe und Tapferkeit können missbraucht werden; sie sind Tugenden, wenn sie darauf gerichtet sind, Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit zu bewahren oder zu schaffen.“ Dass dies in den Erläuterungen enthalten ist, bezeichnete Steinhauser ein wenig kryptisch als „Nachsicht“ gegenüber der ÖVP – also als Zugeständnis.

Das Komitee, das für die Rehabilitierung der Deserteure eingetreten ist, freut sich auch über den „wichtigen Hinweis auf die Moskauer Deklaration, die Desertion ja explizit als Form des Widerstands nennt“.

AUF EINEN BLICK

Die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP haben sich mit den Grünen auf die Aufhebung aller NS-Unrechtsurteile geeinigt. FPÖ und BZÖ waren gegen eine pauschale Aufhebung.

■Der Entwurf zum „Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz“ wurde am Mittwoch vom Justizausschuss des Nationalrats abgesegnet, das Gesetz soll noch im Oktober beschlossen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.