Bei Bauarbeiten im Krankenhaus von Hall wurden Gebeine von 220 NS-Opfern gefunden. Möglicherweise wurden sie in einem bisher unbekannten „Euthanasie-Programm“ ermordet.
Wien/Apa/No. Es ist eine historische Sensation und ein Rätsel zugleich: Am Montag wurde bekannt, dass bei Bau- und damit verbundenen Grabungsarbeiten auf dem Areal des Landeskrankenhauses Hall die Gebeine von 220 Personen entdeckt worden sind. Dabei handelt es sich laut Historikern um NS-Opfer. Da die Gräber nahe der Psychiatrie des Spitals auf dem alten, aufgelassenen Anstaltsfriedhof gefunden wurden, ist davon auszugehen, dass es sich bei den Toten oder zumindest bei einem Teil von ihnen um Opfer der NS-Euthanasie handelt könnte.
Dies wäre insofern eine Neuigkeit für Historiker, da bisher nicht bekannt war, dass außerhalb von Schloss Hartheim Menschen mit Behinderungen von NS-Ärzten auf dem Gebiet Österreichs systematisch ermordet wurden. So nennt der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber die Zahl von 220 Toten „exorbitant hoch“. Laut dem Historiker habe seit einigen Jahren der Verdacht bestanden, dass man in der NS-Zeit Hunderte in Hall verhungern habe lassen. Sollte sich herausstellen, dass die Opfer in Hall mit Giftspritzen getötet wurden, sei das völlig neu.
Es hatte zwar Pläne für ein „Euthanasie-Programm“ mit Giftspritzen in Hall gegeben, diese wurden aber wie das gesamte NS-Euthanasie-Programm 1941 offiziell und 1944 gänzlich beendet. Berlin gab Protesten der Kirche nach und befürchtete nicht zuletzt, dass es zu viel Unruhe in der Bevölkerung gebe, wenn Nachbarn und Familienangehörige mit mentalen oder körperlichen Beeinträchtigungen abgeholt und umgebracht würden. Es gab weiter „wilde Euthanasie“, bei der Ärzte auf eigene Faust Behinderte töteten.
Insgesamt wurden rund 700 Erwachsene und Kinder aus dem Gebiet Tirols und Vorarlbergs, meist ohne das Wissen ihrer Angehörigen, verschleppt. Von 1940 bis 1945 wurden mindestens 400 Zwangssterilisationen in Tirol und Vorarlberg durchgeführt, erhoben Wissenschaftler der Universität Innsbruck. In der Studie „Zwangssterilisation und NS-Euthanasie in Tirol, Südtirol und Vorarlberg“ heißt es, dass bis 1945 mindestens 3000 Vorarlberger, Nord- und Südtiroler wegen einer angeblich vererbbaren Krankheit angezeigt worden seien. Für den „Reichsgau Tirol-Vorarlberg“ waren „Erbgesundheitsgerichte“ in Innsbruck und Feldkirch zuständig. Die Ärzte und das Pflegepersonal waren verpflichtet, Behinderte diesen Ämtern zu melden.
Die in die Anstalten Eingewiesenen wurden häufig weiter nach Hartheim in Oberösterreich transportiert und dort umgebracht. Es hat zwei Heil- und Pflegeanstalten in Hall in Tirol und Valduna in Vorarlberg und eine Reihe kleiner Alters- und Pflegeheime (St.Josefsinstitut in Mils, Mariathal bei Kramsach und andere) gegeben. Dort hat es zwar ebenfalls Tötungen gegeben, bisher war man aber eben von wesentlich weniger ausgegangen.
Auf einen Blick
NS-Euthanasie. In Österreich wurden im Zuge des NS-Euthanasie-Programms alleine in Schloss Hartheim (Bezirk Eferding, Oberösterreich) bis zu 30.000 körperlich und geistig beeinträchtigte und psychisch kranke Menschen ermordet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2011)