Eine von 200.000 Verbannten

(c) Jutta Sommerbauer
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Am Ende des Zweiten Weltkriegs ließ Stalin die Krimtataren deportieren. Seit 1989 haben sich Zehntausende wieder in der alten Heimat angesiedelt. Eine Rückkehr mit Konflikten.

Zum Teufel, was ist das nur für ein Leben?“ Mahinur Osman hat mit ihren 79 Jahren genug Gelegenheit gehabt, sich diese Frage zu stellen. Jetzt gerade wieder. Wie am Tag zuvor ist der Glatzköpfige bereits am Nachmittag besoffen, torkelt die staubige Hauptstraße von Bachtschisaraj entlang. Als er an Mahinurs Stand kommt, greift er sich im Vorübergehen eine Tomate und schmäht die alte Frau, die hinter den Kartonschachteln mit Obst und Gemüse steht. „Babuschka“ klingt aus seinem Mund wie ein schmutziges Wort.

Mahinur Osman, die dürre Greisin, die hier jeden Tag stehen muss, weil sie von ihrer Rente allein nicht leben kann, rafft ihre Wut zusammen. Gesammelt hat sie genug in all den Jahren. Ihre sanfte Stimme wird schneidend grell, sie schreit den Glatzköpfigen an, er soll verschwinden, zur Hölle fahren.

„Zum Teufel, was ist das nur für ein Leben?“ Gut möglich, dass die Tatarin sich diese Frage zum ersten Mal am 18. Mai 1944 gestellt hat. Bis zu diesem Donnerstag führte sie das unbeschwerte Leben eines jungen Mädchens. Mahinur wuchs in einem Dorf in der Nähe der früheren krimtatarischen Hauptstadt Bachtschisaraj auf, aß süße Äpfel aus dem Garten ihres Vaters und besuchte die örtliche Schule.


Stalins Strafe. Ein Befehl von Josef Stalin sollte ihr geruhsames Leben auf den Kopf stellen. Ihres, und das der anderen Krimtataren, Nachfahren jenes Turkvolkes, das im 15. Jahrhundert auf der Krim einen eigenen Staat – das Khanat – gegründet hatte. Die ins Schwarze Meer hineinragende Halbinsel wurde freilich 1783 unter der russischen Zarin Katharina der Großen erobert und war ein geopolitisch wichtiges wie verwundbares Territorium für das Herrscherhaus – und später für die Sowjets: die Südflanke des Reiches, der Zugang zum Mittelmeer. Während im Zweiten Weltkrieg viele Tataren auf der Seite der Roten Armee kämpften, sympathisierten einige mit den Nationalsozialisten. Sie hofften auf eine Befreiung von den Sowjets, die die tatarische Kultur unterdrückt und die Intelligenzia ermordet hatten.

Stalins Strafe für diese Illoyalität war gnadenlos: Er schickte ein ganzes Volk in die Verbannung, 200.000 Menschen. Am 18. Mai 1944 wurden die Tataren in Eisenbahnwaggons außer Landes geschafft. Unter ihnen war Mahinur Osman. „Wirft man uns etwa ins Schwarze Meer?“, dachte sie. Nein, die Reise sollte 20 Tage dauern. Am 2. Juni 1944 blieb der Eisenbahnwaggon stehen. Mahinur Osman war in Usbekistan angekommen.

Viele andere überlebten den Transport nicht: Man schätzt, dass in diesen Tagen 30.000 Menschen ums Leben kamen. Anders als andere der „Kollaboration“ bezichtigte deportierte Völker wie die Tschetschenen durften die Tataren nicht in ihre alte Heimat zurück. Erst mit dem Jahr 1989 gestattete die Sowjetführung den Tataren die Rückkehr. 300.000 sind seither eingewandert, vor allem seit der ukrainischen Unabhängigkeit Anfang der Neunziger. Heute sind es noch etwa 2500 pro Jahr.

Mahinur Osman ist erst vor sechs Jahren auf die Krim zurückgekehrt, gemeinsam mit einer Tochter. Die Gräber ihrer Eltern musste sie in Usbekistan zurücklassen. Hier in Bachtschisaraj hat sie keinen von ihren alten Freunde wiedergetroffen. „Mein ganzes Leben lang musste ich kämpfen“, sagt sie, als sie das nicht verkaufte Obst zurück in die Kartons packt.


Boden „zurückgeholt“. Refat Tschubarow gehört jener Generation an, die im Exil aufgewachsen ist und die Krim nur aus Erzählungen der Alten gekannt hat. Er selbst wanderte 1991 ein. Der Präsident des krimtatarischen Weltkongresses, Geburtsort Samarkand, sitzt in seinem ebenerdigen Büro in der Krim-Hauptstadt Simferopol. Im Fernsehen läuft die Kiewer Parlamentsdebatte, an der Wand hängt das Porträt des Krimtataren-Anführers Mustafa Dzhemilew.

Doch auf der Krim wartete niemand auf die Neuankömmlinge. In den Häusern der Tataren wohnten längst andere, angesiedelte Russen und Ukrainer. Während die Südküste zum Sanatorium der Sowjetbürger ausgebaut worden war, konnten „loyale Bevölkerungsgruppen“ auf ein Heim auf der Krim hoffen. „Eine Kolchosenbäuerin aus Kursk durfte hier nicht leben“, sagt Tschubarow. „Ein pensionierter Militär schon.“ Die Behörden hätten den Tataren kein Land gegeben, erinnert sich Tschubarow. „Daher haben wir uns unseren Boden zurückgeholt.“ Tatarische Siedlungen entstanden illegal, auf staatlichem Grund. Mit den Jahren sind aus Hütten Häuser geworden, nachträglich legalisiert.

Kaum Unterricht auf Tatarisch. Der Ort, in dem das Haus von Abdurahman Egiz' Großvater steht, hieß früher Korbek. Heute ist die Ansiedlung nur noch unter dem slawischen Namen Izobilnoe bekannt. Lediglich ein paar der alten krimtatarischen Ortsnamen wurden nach der Deportation von 1944 nicht geändert. Jalta zum Beispiel.

Der Enkel will das Haus des Großvaters zurückkaufen – „als Zeichen, dass wir wirklich wieder da sind“. Egiz, mit seinen 26 Jahren Präsident der Jugendorganisation „Bizim Qirim“ (Unsere Krim), ist ein Nachwuchsstar der krimtatarischen Politik. „Der Kampf um die Krim hat Spuren in uns hinterlassen“, sagt er, und es klingt sehr ernst für einen jungen Mann. Egiz hofft, dass sich durch die EU-Annäherung der Ukraine die Lage der Minderheit verbessert. Eines der größten Probleme sei der mangelnde Schulunterricht auf Tatarisch. Egiz ärgert sich auch über den „Chauvinismus“ der Mehrheit – und bringt das unlösbare Dilemma der Tataren, über 60 Jahre nach ihrer Verbannung, auf den Punkt: „Russen und Ukrainer betrachten uns als Minderheit. Wir aber fühlen uns als Nation, die hier historisch etwas erschaffen hat.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2011)

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