Geschichte: Sterbehilfe für die Erste Republik?

Geschichte Sterbehilfe fuer Erste
Geschichte Sterbehilfe fuer Erste(c) AP (ARTURO MARI)
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Die Erforschung von kürzlich geöffneten vatikanischen Archiven für das Pontifikat Pius XI. erhellt die Rolle des österreichischen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas beim Staatsstreich 1933/34.

Am 12. Februar 1934 stimmte Kardinal Innitzer im Stephansdom in Anwesenheit von Bundespräsident und Bundeskanzler ein feierliches Te Deum an. Anlass dafür war der „Krönungstag“ des Papstes, der seit 1923 in aller Welt feierlich begangen wurde. Als die Gottesdienstbesucher den Dom verließen, schwirrten durch Wien erste Meldungen vom „sozialdemokratischen Aufstand“ in Linz. Stunden später herrschte vielerorts Ausnahmezustand.

Die Öffnung der vatikanischen Archive für das Pontifikat Pius XI. (1922 bis 1939) im Jahr 2006 hat Forscher aus aller Welt auf den Plan gerufen. Seit dem Jahr 2009 läuft an der Universität Wien das Forschungsprojekt „Pius XI. und Österreich“. Erste Ergebnisse betreffen u.a. die Rolle des Bundespräsidenten Wilhelm Miklas beim Staatsstreich 1933/34.

Pius XI. stand vielen Herausforderungen gegenüber: vom brutalen Bolschewismus Russlands über autoritäre Regime etwa in Italien oder Spanien bis hin zum totalitären NS-Staat. Um das kirchliche Handeln zu sichern, wollte Pius XI. notfalls „auch mit dem Teufel“ Pakte schließen. Musterbeispiel dafür ist die Schaffung des Vatikanstaats durch die Lateranverträge mit Benito Mussolini 1929.

Österreich wurde Ende der 1920er-Jahre wegen politisch-ideologischer Spannungen und der Wirtschaftsmisere zunehmend unregierbar. Nationalsozialistische Erfolge bei Landtagswahlen 1932 „zerbröselten“ die Koalitionspartner der Christlichsozialen. Ab 1933 setzte Hitler den Kleinstaat unter enormen Druck – etwa durch die Tausend-Mark-Sperre. Terroranschläge erschütterten das Land, autoritär gesinnte katholische Politiker und faschistische Heimwehr drängten auf Ausschaltung von Parteien und Parlament. Die Abstimmungspanne am 4. März 1933 bot dazu eine gute Gelegenheit.

Miklas gehörte zum „parlamentarischen Urgestein“ des Landes. Bei der Wahl zum Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung 1928 rühmten auch politische Gegner seine Amtsführung und demokratische Gesinnung. Ihm stand als Bundeskanzler der gewiefte Taktiker Engelbert Dollfuß gegenüber, der sich schon am 7. März 1933 mit einer Rücktrittsdrohung erste Maßnahmen am Rande der Verfassung ertrotzte. Danach dosierte er seine Schritte stets so, dass Miklas gerade noch vor jenen drastischen Auswegen zurückschreckte, die ihm die Verfassung bot – vor allem die Entlassung der Regierung. Der Kanzler wiegte ihn bis Oktober 1933 auch im Glauben, dass er nur Änderungen anpeile, an denen auch Miklas lag – z.B. die Stärkung des Präsidentenamtes oder die Sicherung kirchlicher Positionen. Als dem Präsidenten klar wurde, dass die Regierung eindeutig in Richtung Diktatur marschierte, sah er den Ernstfall für sein Gewissen gekommen.


Geheime Konsultation. Miklas hatte als gläubiger Katholik seine Amtseide unter Anrufung Gottes geleistet. In seiner Gewissensnot wollte er sich nun an den Papst wenden und plante eine private „Pilgerfahrt“ nach Rom. Hinweise auf diplomatische Probleme mit Italien, das angeblich auf einem offiziellen Besuch bestand, vereitelten die Reise. Die Quellen sprechen dafür, dass die Regierung Dollfuß sie scheitern ließ.

Unter Umgehung des päpstlichen Nuntius Enrico Sibilia, den er aufseiten des Kanzlers wusste, suchte Miklas nun über kirchliche Vermittlung päpstlichen Rat. Als Boten fungierten Kardinal Innitzer und der vatikanische Staatssekretär Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII. In der Antwort vom 29. Dezember (die „nach Gebrauch zu vernichten“ sei) verwies Pius XI. darauf, dass ein Eid nicht verpflichte, wenn er „höheres Gut“ verhindere. Ein Hinweis auf das „Volkswohl“ sollte die Skrupel zerstreuen: „Die Aenderungen, die man an der Verfassung vorzunehmen im Begriffe steht, dienen aber offensichtlich dem höheren Wohle des Landes. Indem der Herr Bundespräsident sie gutheisst, hält er sich also, wenn auch nicht an den Buchstaben, so doch an den Geist seines Amtseides und gibt ihm eine höhere Erfüllung“, heißt es dort. Und weiter: „Der Heilige Vater ist aber der Meinung, dass es im vorliegenden Falle einfachhin gegen die salus populi verstossen würde, wollte man nicht zu jenen Reformen greifen, welche die augenblickliche ernste und schwere Lage erheischt.“

Es spricht für Miklas, dass selbst dieser Ratschlag sein Gewissen nicht beruhigt hat. In einem Brief an die Bischöfe vom 2. Februar 1934 legte er sein moralisches Dilemma noch einmal ausführlich dar. Der Bürgerkrieg ließ diese Initiativen obsolet werden. Miklas war sich der mangelnden Legitimität des folgenden „Ständestaates“ bewusst und drängte mehrfach auf Volksabstimmung. Kurt Schuschnigg, der Nachfolger des ermordeten Dollfuß als Kanzler, hielt ihn im politischen Abseits und konsultierte ihn zuletzt nicht einmal zur Volksabstimmung 1938.


Kirche und Demokratie. Im Jänner 1934 hätte selbst ein energischer Schritt des Präsidenten das Ende der Demokratie wohl nicht mehr verhindert: Sie starb nicht an einer geheimen päpstlichen Weisung, sondern am Mangel entschiedener Demokraten an maßgeblichen Stellen. Dem Präsidenten hätte zudem selbst ein Papst keine Gewissensentscheidung abnehmen können. Dass Pius XI. das gesamte Episkopat und seinen Nuntius desavouieren würde, war kaum zu erwarten: Die kirchliche Lehre der Zeit beurteilte Staatsformen ausschließlich „ergebnisorientiert“: Solange sie Naturrechte (grundrechtliche Standards) und Kirchenrechte wahrten, wurden sie akzeptiert. Erst die Erfahrungen des „Zeitalters der Diktaturen“ bewirkten nach 1945 eine grundsätzlichere Annäherung von Kirche und Demokratie. Das vor fünfzig Jahren eröffnete Zweite Vatikanische Konzil hat sie lehramtlich abgesichert.

Miklas hätte zum Helden eines religiös motivierten demokratischen Gewissens werden können – gegen höchste kirchliche Instanzen seiner Zeit. Dazu konnte er sich aber nicht aufraffen. Der Bauer, Mesner und Familienvater Franz Jägerstätter ist fünf Jahre später seinem Gewissen auch gegen den Rat des Bischofs gefolgt und hat dafür einen hohen Preis bezahlt.


Rupert Klieber ist a. o. Professor für Kirchengeschichte an der Uni Wien und leitet das Forschungsprojekt „Pius XI. und Österreich“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2012)

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