Ein Gefühl für die Bilder- und Sprachwelt: Die Verantwortung, mit Kindern zu arbeiten

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In der Zusammenarbeit mit Kindern im Film braucht es viel Zeit. Zeit, das jeweilige Gegenüber kennenzulernen. Und Zeit, sich selbst kennenlernen zu lassen. Stülpte man ihnen seine eigenen Vorstellungen über, würden Kinderdarsteller zu bloßen Gebrauchsobjekten degradiert.

Das Casting für Michael Hanekes „Das weiße Band“ habe ich dreimal abgesagt. Ich habe nicht zurückgerufen. Ich habe mich verleugnen lassen und behauptet, mich just in diesem Zeitraum bereits für diverse andere Projekte verpflichtet zu haben. Es schien mir ein absolutes Ding der Unmöglichkeit zu sein, für 48 Kinderfiguren eines historischen Stoffes und mit den Inhalten, die diese Figuren zu durchleben haben, auch nur annähernd die passenden Kinder und Jugendlichen zu finden. Vor allem, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits mehrmals für Haneke gearbeitet hatte und wusste: „Annähernd“ war definitiv kein Begriff der Gültigkeit im Haneke'schen Kosmos. Und auch meine langjährige Kollegin Carmen Loley drohte mir mit Beendigung unserer Zusammenarbeit, sollte ich auch nur daran denken, dieses Projekt in Erwägung zu ziehen.

Ein Jahr später hatten wir mehr als 7000 Kinder vor der Kamera gehabt, uns durch ganz Deutschland gefräst, durch Österreich und durch die Schweiz. Auch in Paris fanden wir noch deutschsprachige Kinder, die gecastet – und letztendlich auch besetzt wurden.

„Leben in Kinderdörfern“. In der drei Monate dauernden Drehzeit erarbeiteten wir nicht nur die Szenen gemeinsam mit den jungen Darstellern, wir wohnten und lebten auch mit ihnen in unseren eigenen „Kinderdörfern“. Denn wie vereinbart, hatten die Eltern sie zu Drehbeginn abgeliefert. Und noch heute bin ich mit einigen der Kinder und ihren Eltern in freundschaftlichem Kontakt. Die Kinder (wenn sie es heute noch sind) wollen immer wissen, wann es wieder so ein herrliches Filmabenteuer zu durchwandern gäbe. Und die Eltern, die wollen immer wissen, ob sie vielleicht nicht wieder einmal so einen herrlichen Sommer ohne Kinder durchleben dürfen.

Vieles, was ich jetzt über die Arbeit mit Kindern berichten werde, wird banal klingen und nicht neu. Dennoch ist es essenziell: Kindern muss man da begegnen, wo sie in ihrer Entwicklung stehen. Und nicht dort, wo man selbst steht. Das bedeutet vor allem eines: In der Zusammenarbeit mit Kindern braucht es viel Zeit. Zeit, das jeweilige Gegenüber kennenzulernen. Und Zeit, um sich selbst kennenlernen zu lassen. Man muss ein Gefühl dafür entwickeln können, für die Bilderwelt und die Sprachwelt, in der das jeweilige Kind beheimatet ist, denn die werden das Werkzeug sein, das die zu erzählenden Geschichten umsetzen muss. Alles andere wäre fremder Inhalt und würde Kinderdarsteller zu bloßen Gebrauchsobjekten degradieren.
Ohne all diese Erfahrungen in vorangegangenen Projekten hätte ich mich niemals an meinen eigenen ersten Film „Michael“ gewagt. Erzählt wird darin die Geschichte eines 35-jährigen Mannes, der einen zehnjährigen Buben in einem Kellerabteil gefangen hält. Hier war es auch sehr wichtig, den Kinderdarsteller zu stärken, ihm nicht nur mit Offenheit und Ehrlichkeit zu begegnen, sondern ihm eine gleichwertige Position innerhalb unseres Teams zu übertragen. Alle Zeichnungen und Basteleien, die im Film zu sehen sind, durfte er selbst anfertigen. Er durfte selbst entscheiden, wo und wie sie im Film platziert wurden. Er verstand, dass seine Stimme zählte. Und dass er nicht bloßes Objekt, sondern aktiver Teil davon war, eine Geschichte, eine neue Welt, zu erfinden.

Kein privates Leid. Die Verantwortung, die wir über die Figur wie über den potenziellen Darsteller übernehmen mussten, setzte aber noch sehr viel früher an. So sonderten wir beim Casting von Anfang an alle Kinder aus, die in irgendeiner Form bereits Leid in sich trugen, sei es aufgrund der Scheidung der Eltern, sei es wegen Mobbingerfahrungen in der Schule oder ähnlichen traumatischen Erlebnissen. Ein „gesunder“ und „lebenslustiger“ Junge sollte es sein, mit dem ich diese Rolle erarbeiten wollte. Privates Leid in meinem Kunstschaffen zu nutzen, hätte ich despektierlich gefunden, verantwortungslos und gefährlich.

Was aber ist das Faszinierende an jungen Darstellern? Zum Thema „Kinder im Film“ wurde oft ein Text des deutschen Regisseurs Dominik Graf zitiert. Auch ich will es tun, denn in „Aus dem Leben der Marionetten“ von 1999, einem Nachruf auf den französischen Filmemacher Robert Bresson, bringt er über Laien und Kinder im Film Folgendes auf den Punkt: „Sie haben den professionellen Schauspielern eine unendliche Stärke voraus: Sie sind vollends uneitel, sie sind ,unschuldig‘. Sie zeigen gewissermaßen einen Rest unserer ursprünglichen menschlichen Natur – und zwar bevor der Terror des Individualismus, bevor die tiefenpsychologischen Injektionen des Kapitalismus, die jeden zum Werbemanager seiner selbst machen wollen, bevor all diese Mechanismen des Zwangs- und Besonders- und Erfolgreichseins in uns wirksam werden.“

Unschuld und Ernsthaftigkeit. Der Archetyp des Kindes ist etwas, was uns alle immer ansprechen wird. Vielleicht, weil wir noch die Unschuld und die Ernsthaftigkeit des eigenen Kindes in uns tragen und uns so Kunstformen wie Film eine Oberfläche bieten, durch die wir auf den Grund unseres Selbst blicken können.
Ich sehe heute viele Kinderfilme, die das Kindsein, so wie das Menschsein, wie ich es verstehen kann, nicht behandeln. Ausgestattet mit Super- und/oder Zauberkräften bahnen sich die Protagonisten ihre Wege durch vorhersehbare Geschichten, die nicht vom Leben erzählen. Man führt also Kindern nicht Kinder vor, sondern was? Hybride?

Gut. Zu meiner Zeit gab es auch Pippi Langstrumpf und anderes, aber da waren immer mindestens noch ein Tommy und eine Annika zur Seite, mit denen auch ich mich identifizieren konnte. Junge Menschen, die sich nicht durch irgendwelche sonderbaren Fähigkeiten hervortun mussten. Die einfach das waren, was sie waren – und in dem möglich und akzeptiert. Heute werden diese Figuren meist mit Außenseitern besetzt. Wer nicht das Besondere repräsentiert, ist dick, trägt Brille oder nervt auf irgendeine Art. Ob unserem Nachwuchs mit derlei Vorlagen die Annahme des eigenen Individuums erleichtert wird, das ist fraglich.

von Markus Schleinzer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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