Bürgerrechte: Wer fürchtet sich vor der Gesetzesbeschwerde?

Buergerrechte fuerchtet sich Gesetzesbeschwerde
Buergerrechte fuerchtet sich Gesetzesbeschwerde(c) BilderBox - Erwin Wodicka (BilderBox.com)
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Die Annahme, Gerichte würden "richtiger" als Verwaltungsbehörden entscheiden, ist falsch.

Jüngst hat mich ein deutscher Kollege beauftragt, eine außerordentliche Revision beim Obersten Gerichtshof einzubringen. Der Klient fühlte sich dadurch beschwert, dass das Oberlandesgericht seiner Ansicht nach entweder einem Gesetz einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellte oder – sollte die Gesetzesauslegung des OLG zutreffen – dass das Gesetz gegen die Grundrechte auf Erwerbsfreiheit und Eigentum verstößt und daher verfassungswidrig ist. Zudem ging es um die Klärung einer unionsrechtlichen Frage, weshalb beim OGH die Vorlage an den Europäischen Gerichtshof angeregt wurde. Ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht verletzt ja das Recht auf den gesetzlichen Richter. Sollte der OGH unserer Argumentation zur Verfassungswidrigkeit nicht folgen oder nicht an den EuGH vorlegen, so meinte der Kollege, sei ja nichts verloren: Man müsse dann eben überlegen, „Urteilsverfassungsbeschwerde“ an das „österreichische Verfassungsgericht“ zu erheben.

In Deutschland kann jeder, der behauptet, in einem seiner Grundrechte oder bestimmter grundrechtsgleicher Rechte durch die öffentliche Gewalt (Gesetzgeber, Regierung/Behörden, Gerichte) verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben. Diese dient nicht nur der Sicherung und Durchsetzung subjektiver Rechtspositionen, sondern auch der Einhaltung objektiven Verfassungsrechts. 1969 kam sie in die deutsche Verfassung;zuvor war sie einfachgesetzlich geregelt. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht als zusätzlicher Rechtsbehelf neben dem Rechtsweg zu anderen Gerichten gedacht, also keine „Superrevision“. Gerichtsentscheidungen können (und dies ist auch richtig!) damit nur in engen Grenzen überprüft werden, weil es nicht Aufgabe des BVerfG sein kann, Gerichtsentscheidungen auf die Richtigkeit der getroffenen Feststellungen, der Auslegung der Gesetze oder der Anwendung des Rechts im Einzelfall zu prüfen. Ein solcher außerordentlicher Rechtsbehelf ist sicherlich – wie uns Deutschland vorlebt – keine „Querulantenbeschwerde“!

Als ich dem deutschen Kollegen erklärte, in Österreich gebe es kein vergleichbares Instrument, wollte er dies zunächst nicht glauben. Für ihn war es selbstverständlich, dass es „in einem ordentlichen Rechtsstaat“ lückenlos eine allgemeine verfassungsgerichtliche Kontrolle der öffentlichen Gewalt geben muss, die dem Rechtsunterworfenen offensteht. In Österreich ist dies – so – nicht der Fall.

Hier kann der Einzelne seit 1975 (zuvor nur eingeschränkt im Hinblick auf grundrechtswidrige Gesetze) zwar den Verfassungsgerichtshof anrufen, wenn er meint, ein Bescheid einer Behörde würde auf einer rechtswidrigen Verordnung oder einem verfassungswidrigen Gesetz beruhen, nicht aber, wenn dies bei einem Urteil der Fall ist. Diesfalls muss er sich darauf verlassen, dass der OGH oder ein zweitinstanzliches Gericht die Bestimmung beim VfGH anficht. Rechtsanspruch darauf besteht keiner. Aber warum eigentlich nicht?

Nur nicht zu viel „Mündigkeit“

Die Prüfung von Gesetzen auf Verfassungswidrigkeiten war immer schon ein sensibles Thema: Das 1867 eingesetzte Reichsgericht durfte – wie ausdrücklich klargestellt (man wollte verhindern, dass es das Gericht dem US-Supreme Court nachmachen und verfassungswidrige Gesetze einfach unangewendet lassen könnte) – Gesetze generell nicht prüfen, nur Verordnungen; 1920 wurde mit dem B-VG dem VfGH eine beschränkte Gesetzesprüfungskompetenz übertragen (Prüfung der Verfassungswidrigkeit von Landesgesetzen auf Antrag der Bundesregierung und umgekehrt). Weder die Gerichte noch der Einzelne konnten Gesetze anfechten; Gerichte allerdings zumindest gesetzwidrige Verordnungen. 1929 wurde dann dem OGH und dem Verwaltungsgerichtshof ermöglicht, eine Gesetzesprüfung beim VfGH zu beantragen. Seit 1975 können dies auch zweitinstanzliche Gerichte. Und die Bürger, wenn es um Bescheide von Verwaltungsbehörden, nicht aber um gerichtliche Urteile geht – so weit soll seine „Mündigkeit“ dann doch nicht reichen.

Dies dürfte in der längst überholten Fiktion begründet sein, bei den unabhängigen Gerichten würde es – im Gegensatz zu den politischen Einflüssen ausgesetzten Verwaltungsbehörden – keines Antragsrechts des Rechtsunterworfenen bedürfen, weil dort die Rechtsrichtigkeit der Entscheidungen eine höhere als bei der Verwaltung wäre. Auf die Gerichte könne man sich verlassen, nicht aber auf die Behörden. Sie würden von ihrem Anfechtungsrecht schon Gebrauch machen, wenn dies geboten wäre. Dies betont der OGH in einer Presseaussendung zur Gesetzesbeschwerde. Daran soll nicht gezweifelt werden. Überzeugend ist diese Argumentation freilich nicht. Sieht man von politischen Interventionen ab, ist nicht verständlich, warum ein Richter „richtiger“ als ein Behördenjurist entscheiden sollte. Abhängigkeit in der Verwaltung ist nicht gleichbedeutend mit „Fehleranfälligkeit“; umgekehrt schützt Unabhängigkeit doch nicht vor Fehlern! Nur beim Fehler des OGH, der sein Urteil auf Basis eines verfassungswidrigen Gesetzes fällt und die Verfassungswidrigkeit nicht erkennt, soll der Einzelne nichts unternehmen können. Entscheidet eine Behörde oder ab 2014 ein Verwaltungsgericht, dann schon. Das ist unverständlich und unsachlich. Warum soll der Bürger bei einer gerichtlichen Entscheidung nicht die Möglichkeit haben, mit Gesetzesbeschwerde gegen Gerichtsurteile vorzugehen? Haben die Gerichte bereits einen Normprüfungsantrag gestellt, so erübrigt sich eine Gesetzesbeschwerde. Hat das Gericht einen solchen zu Recht unterlassen, wird der VfGH der Gesetzesbeschwerde nicht stattgeben. Wenn der OGH die Verfassungskonformität falsch beurteilt hat, wird der VfGH das Gesetz aufheben. Dann muss ein neues Urteil gefällt werden.

Bei richtiger Ausformung der Gesetzesbeschwerde wird der VfGH nicht zur Superrevisionsinstanz werden, die den OGH kontrolliert, was anscheinend befürchtet wird. Geprüft werden soll nicht die Entscheidung, sondern, ob das zugrundeliegende Gesetz verfassungswidrig ist. In diesem Zusammenhang kann die Gesetzesbeschwerde weder die Auslegung des Gesetzes noch die Anwendung des Rechts auf den konkreten Fall einer Kontrolle unterziehen. Sicherlich muss sich der OGH gefallen lassen, dass der VfGH prüft, ob er zu Recht keinen Normprüfungsantrag gestellt hat. Aber das ist ein dürftiges Argument gegen die Gesetzesbeschwerde. Es bleibt also einzig die Befürchtung, es käme zu unverhältnismäßigen Verfahrensverzögerungen. Nun, dieses Problem ist nicht neu und wird bei Bescheidbeschwerden dadurch gelöst, dass sie grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben. Ähnliches könnte für die Gesetzesbeschwerde gelten.

Es war halt immer schon so...

Außer, dass alles immer so war und nichts geändert werden soll, fehlt es daher an überzeugenden Argumenten, warum es keine Gesetzesbeschwerde geben sollte. Wie das Duell der beiden Höchstgerichte ausgeht, bleibt spannend. Was immer das Ergebnis ist: Es bleibt zu hoffen (Stichwort: Kompetenzverschiebung der Bescheidbeschwerden zum VwGH), dass ohne die in Österreich fast zwingenden „Tauschgeschäfte“ eine sachgerechte, an den Bedürfnissen der Bürger orientierte Lösung erfolgt!

Priv.-Doz. Dr. Bernhard Müller wurde 2009 an der Uni Wien für „Öffentliches Recht“ habilitiert und leitet das Team „Öffentliches Wirtschaftsrecht“ bei Dorda Brugger Jordis Rechtsanwälte GmbH.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2012)

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