Gesetzesbeschwerde schwächt den Rechtsstaat

(c) Vinzenz Schüller
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Die Politik plant, dass Bürger nach Gerichtsentscheidungen eine Norm noch selbst beim Verfassungsgerichtshof anfechten können. Diese Neuerung ist aber nicht nötig, sie würde nur das Verfahren in die Länge ziehen.

Derzeit wird wieder diskutiert, eine sogenannte Gesetzesbeschwerde einzuführen. Diese soll die Anrufung des Verfassungsgerichtshofs gegen Gerichtsentscheidungen dann ermöglichen, wenn die Entscheidung auf der Anwendung einer verfassungswidrigen generellen Norm beruht. Für eine derartige Maßnahme besteht keinerlei Notwendigkeit, sie würde nicht mehr Rechtssicherheit, sondern im Gegenteil Verfahrensverzögerung, Kostensteigerung und Rechtsunsicherheit bringen.

Als Folge der Märzrevolution 1848 wurde der „Oberste Gerichts- und Kassationshof“ als die alleinige höchstgerichtliche Entscheidungskompetenz in Zivil- und Strafrechtssachen eingerichtet. Ein Rechtszug an das 1867 neu geschaffene, politisch besetzte Reichsgericht (Vorgänger des VfGH) wurde zur Vermeidung politischer Einflussnahme auf Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausdrücklich nicht vorgesehen. Der Vater der Verfassung, Hans Kelsen, betonte im April 1928 in seinem Bericht über die Wiener Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer: „Was schließlich die Frage betrifft, inwieweit auch individuelle Rechtsakte der Judikatur des Verfassungsgerichts unterworfen sein sollen, so scheiden von vornherein alle richterlichen Akte aus.“ An dieser sich aus der Bestandsgarantie des Obersten Gerichtshofs (OGH) in Art 92 Abs 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ergebenden Position hat der österreichische Verfassungsgesetzgeber seither festgehalten.

Das B-VG sieht drei gleichrangige höchste Instanzen vor (VfGH, OGH und Verwaltungsgerichtshof). Verfahren und Organisation des VfGH sind zentral auf die Kontrolle des Verhaltens des Staates ausgerichtet. Vor den Zivilgerichten dagegen ist nicht der Staat Partei, sondern es geht regelmäßig um Menschen, die aus unterschiedlichen Auffassungen ihrer einander gegenüberstehenden (Grund-)Rechtspositionen im Konflikt leben. Alle drei Gerichtsinstanzen haben die Grundrechte ebenso zu beachten wie Europarecht, Zivilrecht und Verfahrensrecht. Das „Übel“ Streitigkeit soll rasch und kostensparend beseitigt (Art 6 EMRK) und es soll Orientierung (§502 ZPO) geboten werden (siehe auch die aktuelle, der Tendenz der Gesetzesbeschwerde gegenläufige Gesetzesinitiative zur Schiedsgerichtsbarkeit, die den Instanzenweg verkürzen will).

Zehn Monate längere Dauer

Der OGH hat sich Reformüberlegungen nie verschlossen. Hier geht es aber um zentrale Fragen der Lebensgestaltung, wie Obsorge für Kinder, Bestand des Arbeits- oder Mietverhältnisses, Konsumentenschutz, die Möglichkeit, Exekution zu führen oder Pensionen zu erstreiten und vieles mehr, über deren möglichen Ausgang die Menschen nicht im Ungewissen sein sollen. Wie auch immer man die Gesetzesbeschwerde gesetzestechnisch konstruiert, vor der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs wäre der Rechtsstreit nicht geklärt; es könnte nicht sicher disponiert werden. Die erhebliche Verfahrensverlängerung – nach der vom VfGH veröffentlichten Statistik käme es inklusive Anfechtungsfrist zu einer zusätzlichen durchschnittlichen Verfahrensdauer von mindestens zehn Monaten – geht zulasten der rechtsuchenden Bevölkerung.

Das von den Befürwortern der Gesetzesbeschwerde gebrauchte Schlagwort vom „Schlussstein“ im System der Normenkontrolle, das eine Unvollständigkeit des „Gebäudes“ der Verfassung beschreiben will, trifft nicht zu. Die Aufgaben- und Gerichtstypentrennung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit ist historisch gewollt und in der Bundesverfassung (Art 89 und 140 B-VG) als Ausdruck eines schlüssigen Systems verankert. Die ordentliche Gerichtsbarkeit prüft, ob Bedenken gegen ein Gesetz bestehen. Die Aufhebung der Gesetze ist dann dem VfGH vorbehalten. Damit wird dem einzelnen Bürger die gesetzliche Grundlage privater Entscheidungen und dem Staat die Bestandskraft seiner Gesetze in einem „Vier-Augen-Prinzip“ der beiden Gerichtstypen gesichert. Der nicht begründbare Satz von der Gesetzesbeschwerde als „Schlussstein“ steht im Widerspruch zur gewachsenen österreichischen Rechtstradition.

VfGH-Richter politisch ernannt

Die Mitglieder des VfGH werden ausschließlich von politischen Entscheidungsträgern und im Nebenamt ernannt. Kein einziges Mitglied ist Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Für die Verfassungsrichter gelten auch folgerichtig bei Weitem nicht so strenge Unvereinbarkeitsbestimmungen wie für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit.

Mit dem Inkrafttreten der EU-Grundrechte-Charta ein halbes Jahrzehnt nach dem Konvent hat sich der Wert einer grundrechtlichen Gesetzesprüfung durch den VfGH weiter verdünnt. Im Bereich der umfassenden europäischen Grundrechte kann nur der EuGH eine endgültige Klärung herbeiführen. Die Anrufung des VfGH stellt insoweit bloß eine „Zwischeninstanz“ dar. Die im Beschluss des VfGH (U 466/11) postulierte „Bereinigungsverpflichtung“ (die Aufhebung genereller Normen nach einer Entscheidung des EuGH) bei Verstößen von Gesetzen gegen die Grundrechte-Charta stellt eine durch den Rechtsschutz des Einzelnen nicht erklärbare Verschiebung der Aufgaben vom Parlament zum VfGH dar. Sie weitet die Probleme der Gesetzesbeschwerde aus, potenziert sie durch Haftungsfragen und bewirkt einen übermäßigen Anreiz zur Einholung von Vorabentscheidungsersuchen.

Empirisch lässt sich aus den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beim Vergleich der Höchstgerichte kein Bedarf nach einer Gesetzesbeschwerde aus grundrechtlicher Sicht dokumentieren. Dies trifft sowohl für die inhaltliche Beurteilung, aber noch viel mehr für die Verurteilungen wegen langer Verfahrensdauer zu.

Teure vierte und fünfte Instanz

Die Gesetzesbeschwerde wird den sich aus der fortschreitenden Eingliederung in die Rechtsgemeinschaft der EU ergebenden völlig neuen Ansätzen nicht gerecht. Sie bedeutet vielmehr eine Entwicklung zum Verschleppungstaktik fördernden Rechtsmittelstaat, der mit verlängerten und verteuerten Verfahren keine verbindliche Orientierung bietet, die Abstimmung mit der Gemeinschaftsrechtsordnung erschwert und erhebliche volkswirtschaftliche Kosten verursacht. Zu den drei gerichtlichen Instanzen käme eine vierte und den EuGH eingerechnet eine fünfte.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation sollte mit der Einführung der Gesetzesbeschwerde nicht auf ein durch die Rechtsentwicklung überholtes Modell zurückgegriffen werden. Eine derart gravierende Systemänderung gefährdet die zentralen Werte des gerichtlichen Verfahrens – vorhersehbare Entscheidungen in angemessener Zeit und zu vertretbaren Kosten – und schwächt die Position der österreichischen Rechtsprechung in den komplexeren neuen Rahmenbedingungen der EU.

Dr. Ronald Rohrer ist Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs.
Gegenthese Seite 16

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2012)

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