Moderner Rechtsstaat erlaubt Kontrolle durch Einzelne

Moderner Rechtsstaat erlaubt Kontrolle
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Die Gesetzesbeschwerde, wie alle fünf Parlamentsparteien sie gewünscht haben, schwächt nicht den Rechtsstaat, sondern stärkt ihn. Ein klares Ja zur Gesetzesbeschwerde im Strafrecht.

Wien. Die Diskussion über die Notwendigkeit einer Gesetzesbeschwerde, mit der Betroffene eines letztinstanzlichen zivil- oder strafrechtlichen Urteils an den VfGH herantreten können, ist nicht neu. Gewichtige Stimmen in der Lehre fordern sie seit Langem; auch der Österreich-Konvent war schon 2005 mehrheitlich für eine Einführung. Seit ein paar Wochen liegt ein – von allen fünf Parlamentsparteien beauftragter – Entwurf des Verfassungsdienstes des Kanzleramtes vor, und nun gehen die Wogen hoch. Kritik übt insbesondere jenes Organ, dessen Entscheidungen in Rede stehen, der OGH, und zwar ungewohnt heftig. Vor einer Woche vertrat Vizepräsident Ronald Rohrer an dieser Stelle die Auffassung, die „Gesetzesbeschwerde schwächt den Rechtsstaat“; OGH-Präsident Eckhart Ratz sprach gar von einer „Querulantenbeschwerde“.

Sind Betroffene eines höchstgerichtlichen Straf- oder Zivilurteils wirklich „Querulanten“, wenn sie verfassungsrechtliche Bedenken an den VfGH herantragen? Schwächen sie den Rechtsstaat?

Unseres Erachtens ist das nicht der Fall. Die Möglichkeit individueller Normenkontrolle ist vielmehr Ausdruck eines modernen Rechtsstaates, der eine Überwachung durch die Normadressaten nicht scheut, sondern als wesensimmanent anerkennt. Wie ein historischer Rückblick zeigt, war die individuelle Normenkontrolle bereits 1920 vorgesehen und wurde schrittweise ausgeweitet, bis sie 1975 in der Schaffung des Individualantrages für Personen gipfelte, die sich wegen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes bzw. Gesetzwidrigkeit einer Verordnung in ihren Rechten verletzt erachteten, sofern Gesetz oder Verordnung ohne gerichtliche Entscheidung oder ohne Bescheid wirksam geworden ist. Die Tradition deutet somit – entgegen der Ansicht der Kritiker – in Richtung Ausbau der individuellen (Normen-)Kontrolle und „Bemächtigung“ des Individuums.

In diesem Lichte ist der Entwurf des Verfassungsdienstes zu sehen. Letztinstanzliche straf- (und zivil-)gerichtliche Urteile haben nicht länger „exempt“ zu sein – nichts anderes ist der Fall, wenn der OGH einer Anregung einer Einzelperson zur Vorlage an den VfGH nicht folgt – , vielmehr haben auch diese Rechtsakte – wie alle anderen Behördenakte – einer nachprüfenden einheitlichen Normenkontrolle durch den VfGH standzuhalten.

OLG Innsbruck sprang ein

Zwei Beispiele verdeutlichen die spezifisch strafrechtliche Problematik. Das erste betrifft den ehemaligen §209 StGB, der den sexuellen Kontakt zwischen einem volljährigen und einem mündigen minderjährigen Mann unter Strafe stellte. Unzählige Male haben Betroffene die Verfassungswidrigkeit der „gleichgeschlechtlichen Unzucht“ an den OGH herangetragen – erfolglos. Das OLG Innsbruck (nicht der OGH) brachte die Sache vor den VfGH, was schließlich (2002!) zur Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit führte. Das zeigt, dass eine Gesetzesbeschwerde – verstanden als Normkontrollfunktion durch Individuen – sinnvoll ist und eine Rechtsschutzlücke schließt. Die Gesetzesbeschwerde wird so gesehen nie „querulatorisch“, sondern Ausdruck eines – die Mündigkeit der Individuen respektierenden – Rechtsstaates sein.

Das zweite Beispiel ist ein ständiger prozessualer „Anlassfall“. Die StPO verlangt keine Begründung für Geschworenenurteile. Die EMRK-Konformität dieser Regelung wird von vielen kritischen Stimmen aufgrund der Entscheidung des EGMR Taxquet gegen Belgien infrage gestellt. Dennoch sieht sich der OGH nicht veranlasst, den VfGH damit zu befassen. Mittlerweile judiziert er, dass ein subjektives Recht gegenüber untergeordneten Gerichten besteht, nach Maßgabe des Art 89 Abs 2 B-VG den VfGH zwecks Normprüfung anzurufen. Genau diesen Rechtsschutz, den der OGH gegenüber ihm untergeordneten Gerichten zu gewähren bereit ist, kann gegenüber dem OGH nur eine Gesetzesbeschwerde sichern. Es ist daher höchste Zeit, dass der Gesetzgeber sie beschließt.

Dr. Stuefer ist Rechtsanwältin in Wien, Univ.-Prof. Dr. Soyer ist Rechtsanwalt in Wien und lehrt an der Johannes Kepler Uni Linz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2012)

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