Wenn Gutachter statt Richtern urteilen: Ein einziges Glücksspiel

(C) Fabry
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Manche Sachverständige erforschen Irrelevantes, andere lösen unerlaubt die Rechtsfragen mit: Kritik eines leidgeprüften Anwalts.

Wien. Sachverständige gehören zum Alltag bei Gericht: Sie sollen dem Richter ein Bild von den Tatsachen vermitteln, die einem Sachverhalt zugrunde liegen. Da der Ausgang der meisten Prozesse von Tatsachenfragen abhängt („War die Ampel grün?“), ist die praktische Bedeutung der Sachverständigen enorm. Bedauerlicherweise werden viele Verfahren aber durch sie zu einer Art Vabanquespiel.

In einem Bauprozess (27 Cg 15/11k, LG Wiener Neustadt) war fraglich, ob eine Estrichüberdeckung von 19 Millimetern über den Rohren einer Fußbodenheizung ausreicht. Die Frage des Gerichts an den Sachverständigen lautete: „Sind die betreffenden ÖNORMEN erfüllt gewesen? Wenn nicht, war der Estrich dem Stand der Technik entsprechend eingebracht?“ Für die Beteiligten überraschend hat der Sachverständige zunächst eine nicht gerade billige Belastungsprobe durchgeführt – gerade so, als ließe sich ein Zementestrich wie Gummi zusammendrücken –, und natürlich eine völlig sinnlose. Im Gutachten stellte der Sachverständige dann lapidar fest: „Die betreffenden ÖNORMEN sind teilweise erfüllt worden. Der Estrich war jedoch nach dem Stand der Technik eingebracht.“ Keine Erwähnung der einschlägigen ÖNORMEN, die eine Überdeckung von 45 Milliimetern oder – je nach Lesart – noch mehr vorsieht. Was das Gericht mit diesem Gutachten anfangen wird, bleibt abzuwarten – unnötige Prozesskosten entstehen aber sicher.

In einem anderen Verfahren (26 Cg 4/11s, LG für ZRS Wien) ging es um die Frage der Erkennbarkeit der Überschuldung eines in Insolvenz geschlitterten Bauunternehmens. Dieses hatte – infolge von Mengenmehrungen und Nachträgen – an bereits abgerechneten und noch nicht abgerechneten Leistungen gemeinsam Beträge bilanziert, die über dem zunächst vereinbarten Entgelt lagen. Der in diesem Verfahren bestellte Sachverständige stellte fest, „dass der bilanzielle Wertansatz nicht die Auftragssumme sein kann und keinesfalls über der Auftragssumme liegen kann“. Ihm ist offenbar entgangen, dass das betreffende Bauunternehmen bei allen Baustellen ein höheres Entgelt erwirtschaftet hat, als zunächst vereinbart worden war – ein in der Baubranche wohl nicht seltenes Phänomen.

Diese Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Deshalb ist die Meinung weitverbreitet, dass die Bestellung eines Sachverständigen Gerichtsverfahren im Allgemeinen zum Glücksspiel macht.

Gericht vertraut Gutachter blind

Trotzdem stützen sich Gerichte nach wie vor geradezu blind auf Gutachten von Sachverständigen. Einzig und allein die Eintragung in einer Sachverständigenliste macht die Experten scheinbar sakrosankt. Selbst wenn der Sachverständige unverhohlen zum Besten gibt, dass er sein Unternehmen bereits vor geraumer Zeit eingestellt hat und sich nur noch auf Gutachten konzentriert (!), ändert dies nichts. Und Einwendungen gegen die Höhe des begehrten Honorars brauchen erst gar nicht erhoben werden. Selbst dann, wenn der Sachverständige nach einer Honorarordnung abrechnet, von der er zuvor in seinem Gutachten festgestellt hat, die enthaltenen Honorarsätze seien jedenfalls überhöht (Verfahren 11 Cg 18/09b, LG Korneuburg).

So nebenbei werden häufig auch gleich den Gerichten vorbehaltene Rechtsfragen (Welche rechtlichen Folgen ergeben sich aus den festgestellten Tatsachen?) vom Sachverständigen mitgelöst, häufig bei Fragen einer Verschuldensteilung (z.B. 22 Cg 9/10w, LG für ZRS Wien oder 6 Cg 171/07v, LG Innsbruck). Alle Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (OGH), wonach Fragen des Verschuldens reine Rechtsfragen sind, bleiben offensichtlich ungehört. Leider kann es aber nicht in jedem Verfahren zu einem Spruch des OGH kommen.

Das gerichtliche Sachverständigenwesen liegt im Argen. Auch die seit einiger Zeit notwendige „Rezertifizierung“ hat nicht geholfen, weil da nur die Zahl erstellter Gutachten abgefragt wird: Ein echter Experte, der zufällig im Beobachtungsraum kein Gutachten erstellt hat, hat keine Chance, während ein „Nur-Gutachter“, dessen Sachverstand längst überholt ist, weil er sich nur auf Gutachten „konzentriert“, diese Hürde schafft.

Fast unglaublich ist, dass in einzelnen Sachgebieten keine Sachverständigen mehr eingetragen werden, „weil es schon zu viele gibt“. Gerade so, als müssten die eingetragenen mit einem Erwerbsschutz versehen werden, was wiederum jenen zugute kommt, die sich nur noch darauf „konzentrieren“. Dem verfügbaren Sachverstand ist es jedenfalls abträglich ...

Die Frage ist, ob nicht die Einrichtung von Sachverständigenlisten grundsätzlich überdacht werden sollte. Vielleicht würde sich dann nicht nur die Tatsache ändern, dass die Namen gerichtlich bestellter Sachverständiger überdurchschnittlich oft mit Buchstaben des ersten Teils des Alphabets beginnen (weil von Beginn an gelesen wird). Die unüberschaubare Zahl an offensichtlichen Gefälligkeitsgutachten stimmt aber eher pessimistisch: Was soll denn ein Richter tun, wenn ihm zwei Gutachten von selbstverständlich „ausgewiesenen“ Experten vorgelegt werden, die diametral unterschiedlich sind? Eine Beweiswürdigung würde ihn wohl überfordern, ohne dass ihm dies vorwerfbar wäre.

Ing. DDr. Hermann Wenusch ist Rechtsanwalt und eingetragener Sachverständiger für Betriebswirtschaft und Bauwesen.

Auf einen Blick

Das Gutachterwesen ist umstritten: Bereits die Auswahl der Sachverständigen ist problematisch. Gerichte vertrauen ihnen mitunter blind. Inhaltlich beschränken sich Gutachter auch öfters nicht auf ihre eigentliche Aufgabe: So schreiben sie etwa, wer an einem Unfall zu welchem Teil schuld ist. Das zu beurteilen, wäre aber Aufgabe der Richter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2012)

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