Menschenrechte: Staat haftet für UN-Friedenstruppen

Menschenrechte Staat haftet fuer
Menschenrechte Staat haftet fuer(c) EPA (MARTIJN BEEKMAN)
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Niederlande letztinstanzlich wegen des Tods von drei Muslimen 1995 in Srebrenica verurteilt: Ein Lichtblick für die Menschenrechte.

Cambridge/Massachusetts. Drückende Hitze lag in jenen Julitagen über der Enklave Srebrenica, als bosnisch-serbische Truppen unter General Mladić die Ortschaft eroberten. Fotos zeigen niederländische UN-Truppen auf ihren gepanzerten Fahrzeugen in kurzärmeligen Shirts vor tausenden Flüchtlingen. Das niederländische Bataillon war Teil der UN-Friedensmission in Bosnien und Herzegowina mit der Aufgabe, Srebrenica als sichere Zone zu bewahren. Nachdem Srebrenica von Mladićs Truppen am 11.Juli 1995 erobert worden und die Mission der niederländischen Blauhelme gescheitert war, beschlossen die Niederlande, ihre Truppen abzuziehen.

Hasan Nuhanović arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die niederländischen UN-Friedenstruppen als Übersetzer. Zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seinem Bruder suchte er Zuflucht im Lager der Friedenstruppen. Da Hasan Nuhanović einen UN-Pass hatte, wurde er von den niederländischen Truppen in Sicherheit gebracht, während der Rest seiner Familie aufgefordert wurde, das Lager zu verlassen. Kurz darauf wurde seine Familie von bosnisch-serbischen Paramilitärs ermordet.

Des Lagers verwiesen

Rizo Mustafić war Elektriker beim niederländischen UN-Bataillon und floh mit seiner Familie in das niederländische Lager. Da er keinen UN-Pass besaß, wurde er gezwungen, das Lager mit der Familie zu verlassen. Rizo Mustafić wurde kurz darauf ermordet, während seine Familie den Genozid in Srebrenica, in dem 8000 bosnische Muslime ermordet wurden, überlebte.

Die Angehörigen von Mustafić und Nuhanović forderten in zivilgerichtlichen Klagen wegen des Fehlverhaltens der niederländischen UN-Truppen Schadenersatz vom niederländischen Staat. Da das niederländische Bataillon im Rahmen einer UN-Friedensmission gemäß Kapitel VII der UN-Charta handelte, hatte das Gericht zu prüfen: Sind die Handlungen der Truppen der UNO oder dem niederländischen Staat zurechenbar? Basierend auf der Arbeit der UN-Völkerrechtskommission zur Verantwortung von Staaten und internationalen Organisationen bestätigte das niederländische Höchstgericht in seinen beiden Urteilen eine geteilte Verantwortlichkeit der UN und des niederländischen Staates für die Handlungen der Friedenstruppen.

Weiters hatte das Gericht zu beurteilen, ob die Handlungen der niederländischen Truppen überhaupt einen Rechtsbruch darstellten. Durften die Personen, die nicht für die Friedenstruppen arbeiteten und keinen UN-Pass hatten, des Lagers verwiesen werden? Und nach welchem Recht ist dies zu beurteilen? Dazu hielt das Gericht fest, dass nach bosnischem Recht, welches gemäß niederländischem internationalen Privatrecht anzuwenden ist, die Handlungen nicht rechtmäßig waren. Zudem stützte das Gericht seine Argumentation auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht auf Leben und zum Verbot grausamer und unmenschlicher Behandlung. Die Verweisung aus dem Lager der bosnischen Muslime resultierte direkt in ihrer Ermordung. Ein Staat muss die menschenrechtlichen Garantien nicht nur selbst beachten, sondern er ist auch verpflichtet, alle Handlungen zu unterlassen, die zu einer Verletzung durch Dritte, in diesem Fall bosnisch-serbische Truppen, führen.

Angesichts der jüngsten Rechtsprechung nationaler Gerichte zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit für schwerwiegende menschenrechtliche Verstöße stellen die Urteile des niederländischen Höchstgerichts einen Lichtblick dar. Im April wies das US-Höchstgericht eine zivilrechtliche Klage (Kiobel gegen Shell) von zwölf Nigerianern gegen Shell wegen Menschenrechtsverstößen ab. Ihm folgend wies das vierte US-Bundesberufungsgericht (Al-Shimari gegen CACI) die Kläger, die im berüchtigten irakischen Gefängnis Abu Ghraib von Angestellten einer US-Firma, einer Vertragspartnerin des US-Verteidigungsministeriums, gefoltert wurden, ab.

Rechtliches Vakuum in den USA

Da die Anwendung von irakischem Recht aufgrund bilateraler Verträge zwischen den USA und dem Irak ausgeschlossen wurde, hatten die Kläger keinerlei rechtliche Mittel, um gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Die Folge ist ein rechtliches Vakuum für die Verantwortlichkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen.

Die Niederlande drängten auf richterliche Zurückhaltung. Das Gericht wies dies aber zurück, da es die Möglichkeit der Überprüfungen der Rechtmäßigkeit von Handlungen niederländischer Friedenstruppen durch die niederländische Gerichtsbarkeit ausschließen würde. Und dies ist, laut Gericht, unakzeptabel. Ist es auch! Denn die UNO hat Immunität gegenüber staatlicher Gerichtsbarkeit. Ein anderes Urteil hätte eben jenes Vakuum menschenrechtlicher Verantwortlichkeit geschaffen, wie durch das vierte US-Bundesberufungsgericht geurteilt, und menschenrechtliche Mindeststandards weiter ausgehöhlt. In dieser Hinsicht sind die Urteile des Hohen Rates wegweisende Entscheidungen zur Stärkung der Menschenrechte durch das Damoklesschwert der Verantwortlichkeit. Die Angehörigen der Opfer können nun Schadenersatz verlangen. Müssen Staaten, die Truppen für UN-Friedensmissionen stellen, nun eine Klagewelle befürchten, wie etwa im Osten des Kongo, wo die UNO aktiv am Konflikt teilnimmt? Keineswegs. Zwar haben die Urteile das Potenzial, menschenrechtliche Standards bei UN-Friedensoperationen substanziell aufzuwerten. Jedoch sind Entscheidungen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen, immer im Licht des immensen Drucks einer Kriegssituation und des speziellen Falls zu betrachten.

Stefan Salomon ist Universitätsassistent am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz und absolviert derzeit an der Fletcher School of Law and Diplomacy einen postgradualen Studiengang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2013)

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