Grundrechte: Streik ist kein Entlassungsgrund

APA/Herbert Pfarrhofer
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Die arbeitsvertragliche Einordnung einer Teilnahme an einem Streik ist umstritten. Sollte sie als rechtswidrig eingestuft werden, müssten gutgläubige Arbeitnehmer zumindest entschuldigt sein.

Aussage gegen Aussage, mit der Folge großer Unsicherheit bei den Arbeitnehmern: So kann man die derzeitige Situation für die im Ausstand befindliche Belegschaft der KBA Mödling zusammenfassen. Doch welcher Ansicht ist zu folgen? Ist es einem juristisch wenig versierten Arbeitnehmer zuzumuten, die komplexe Frage nach dem Grundrechtsschutz von Streikmaßnahmen zu beurteilen, wenn sich nicht einmal (Arbeits-)Rechtsexperten darüber einig sind?

Das Arbeitgeberargument

Der Vorstand der KBA Mödling weist die Arbeitnehmer in einem Schreiben darauf hin, dass die Arbeitnehmer mit der „Verletzung Ihrer Arbeitspflicht auch einen Entlassungsgrund setzen, der die Maschinenfabrik KBA-Mödling Aktiengesellschaft zur fristlosen Beendigung Ihres Arbeitsverhältnisses (unter Verlust einer Abfertigung "alt") berechtigt.“ Rechtliche Grundlage für die Ansicht des Vorstands ist insbesondere § 27 Z 4 AngG bzw § 82 lit f GewO 1859: Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer bei pflichtwidriger Unterlassung der Dienstleistung entlassen, und zwar mit allen rechtlichen Konsequenzen, so auch dem im Schreiben des Vorstands der KBA avisierten Verlust der Abfertigung alt bzw der Auszahlungssperre der Abfertigung neu. Doch ist das Verhalten der Arbeitnehmer tatsächlich pflichtwidrig?

Das Argument der Gewerkschaft

GPA-Bundesgeschäftsführer-Stv. Karl Proyer wiederum schwört die Arbeitnehmer darauf ein, ein Streik sei ein Grundrecht in einer Demokratie und könne nicht untersagt werden. Eine Untersagung haben die Arbeitnehmer nach herrschender Meinung auch nicht zu fürchten, immerhin gibt es – abgesehen von dem erst 2000 formell aufgehobenen Streikverbot im öffentlichen Dienst – seit 1945 keine spezifischen Arbeitskampfverbote mehr. Auch machen sich Arbeitnehmer durch einen Ausstand an sich nicht strafbar. Werden Streikkundgebungen abgehalten, sind diese zudem aufgrund der bereits durch das StGG 1867 geschützten Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit grundsätzlich gegen Untersagungen abgesichert. Davon ist jedoch die arbeitsvertragliche Situation zu unterscheiden. Nach herrschender Meinung handeln Arbeitnehmer zwar auf kollektiver Ebene rechtmäßig, wenn sie sich mit den Streikmaßnahmen gegen die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen wehren oder aber auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen kämpfen, kurz: wenn ein arbeitsrechtlicher Streik vorliegt (ein nach der österreichischen Arbeitsrechtslehre bereits auf kollektiver Ebene unzulässiger politischer Streik lag etwa im Jahr 2003 vor, als bundesweit gegen die Pensionsreformen gekämpft wurde). Bislang waren sich Arbeitsrechtsexperten jedoch einig, dass ein Arbeitnehmer durch die Niederlegung der Arbeit gegen seinen Arbeitsvertrag verstößt, weshalb eine Entlassung durch den Arbeitgeber gerechtfertigt ist. Dies soll spätestens seit 2003 aufgrund der medialen Aufarbeitung der arbeitsrechtlichen Konsequenzen eines Streiks auch allen Arbeitnehmern bekannt sein (Friedrich in Marhold/Burgstaller/Preyer, Kommentar AngG § 27 Rn 339).

Grundrecht auf Streik?

Differenzierter als die Gewerkschaftsposition liest sich schon die Aussage des Präsidenten der AK Niederösterreich, Markus Wieser: Ein Grundrecht auf Streik sei durch die „Verfassung“ und die Menschenrechtskonvention geschützt. Arbeitsrechtsexperte Bernhard Hainz wiederum ist der Ansicht, in Österreich gebe es, anders als in Deutschland, kein Streikrecht. Dem kann so nicht gefolgt werden. Fakt ist, dass entgegen der älteren Judikatur des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) seit den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Enerji Yapi- Yol Sen (Bsw Nr 68959/01) und Kaya und Seyhan (Bsw Nr 30946/04) von der Gewährleistung eines Streikrechts durch Art 11 EMRK auszugehen ist (Marhold, Die Bedeutung der Grundrechtecharta und der EMRK für das österreichische Arbeitsrecht, EuZA 2013, 146). Der EGMR betont, das Streikrecht sei jedenfalls von Art 11 EMRK geschützt. Die EMRK genießt in Österreich Verfassungsrang. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 existiert jedoch auch auf EU-Ebene mit Art 28 GRC (Charta der Grundrechte der Europäischen Union) ein Streikgrundrecht. Dem VfGH zufolge können die von der GRC garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte geltend gemacht werden (VfGH U 466/11 ua). Unter Juristen besteht jedoch Uneinigkeit darüber, wann die GRC anzuwenden ist. Nach Art 51 Abs 1 GRC sollen die Mitgliedstaaten die Chartagrundrechte dann anwenden, wenn sie Unionsrecht "durchführen". Klar dürfte hingegen sein, dass durch Art 28 GRC – unabhängig von der Frage, wann die Chartagrundrechte zur Anwendung kommen – der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers geschützt ist: Liegt ein kollektivrechtlich rechtmäßiger Streik vor, verletzen die Arbeitnehmer ihren Arbeitsvertrag nicht und setzen daher auch keinen Entlassungsgrund. Dies ergibt sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, aus dem Inhalt von Art 11 EMRK, der zu berücksichtigen ist, und aus dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen, das der EuGH (Gerichtshof der Europäischen Union) bereits vor Inkrafttreten der GRC als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt hat (EuGH C-438/05, Viking und C-341/05, Laval).

Bedeutung für den konkreten Fall

Unabhängig von weiteren offenen Fragen wie etwa der Drittwirkung eines Streikgrundrechts lässt sich die Situation für die Betroffenen nach Ansicht der Autorin wie folgt zusammenfassen: Prima facie, nach den für Arbeitnehmer und Arbeitgeber – relativ – leicht zugänglichen Rechtsdokumenten, haben Arbeitnehmer ein Grundrecht auf Streik. Über die Facetten dieses Grundrechts ist sich die Wissenschaft uneinig, die Gerichte hatten aufgrund der geringen Streikfreudigkeit österreichischer Arbeitnehmer kaum Gelegenheit, Position zu beziehen. Jedenfalls bei Berufung auf Art 11 EMRK sollte es mittlerweile – trotz mancher Gegenstimmen – klar sein, dass der Ausstand kein pflichtwidriges Verhalten darstellt und die Arbeitnehmer daher keinen Entlassungsgrund setzen. Da kein rechtswidriges Verhalten vorliegt, können auch keine Schadenersatzansprüche geltend gemacht werden.

Denksport für Arbeitnehmer unzumutbar

Doch selbst wenn man nach der dafür erforderlichen eingehenden Befassung mit Art 11 EMRK und Art 28 GRC zu dem Schluss kommen sollte, weder Konventions- noch Chartagrundrecht sind im konkreten Fall anzuwenden, wäre das Vertrauen der Arbeitnehmer auf den ersten Anschein, dass die Streikmaßnahmen grundrechtlich gewährleistet sind, zu schützen: Der Denksport, ob Art 11 EMRK und/oder Art 28 GRC anzuwenden sind, ist den streikenden Arbeitnehmern wohl kaum zumutbar. Vielmehr wird ihnen auf der Verschuldensebene ein Rechtsirrtum zuzugestehen sein, sodass ihnen ihr pflichtwidriges Verhalten nicht vorgeworfen werden kann. Eine Entlassung wäre daher ungerechtfertigt. Mögen auch die wirtschaftlichen Verluste eines jeden Streiktags nicht zu leugnen sein, so ist zumindest für die Wissenschaft durch die unweigerliche Belebung des Diskurses zum Streikrecht viel gewonnen.


Dr. Elisabeth Kohlbacher absolviert derzeit ihre Gerichtspraxis im Sprengel des OLG Wien, ist juristische Mitarbeiterin bei Herbst Kinsky Rechtsanwälte GmbH, Lehrbeauftragte an der WU und Autorin der im Jänner 2014 im Linde Verlag erschienenen Monographie „Streikrecht und Europarecht“.

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