Nur die geheime Wahl ist frei: Pfeiler der Demokratie bedroht

Wahlreform: Was gegen die erweiterte Briefwahl spricht – eine Replik.

WIEN. Als einen „Meilenstein in der Entwicklung des österreichischen Wahlrechtes“ hat Klaus Poier die geplante Einführung der Briefwahl bezeichnet (Rechtspanorama vom 8. Mai). Tatsächlich aber kann von einer Einführung eines Briefwahlrechts kaum gesprochen werden: Schon heute besteht für eine Reihe von Personen, insbesondere auch für jene, die voraussichtlich am Wahltag nicht am Wahlort sein werden, die Möglichkeit, zwar nicht mittels Brief, aber mittels Wahlkarte zuwählen. Diese aber ist laut Gesetz ein „verschließbarer Briefumschlag“, in den das eigentliche Wahlkuvert mit dem Stimmzettel zu legen ist. Dass also schon das jetzige Wahlkartenverfahren ein Briefwahlverfahren ist, kann ernstlich nicht bestritten werden. Was also ist neu?

Bisher muss die Wahlkarte entweder im Inland bei einem Wahllokal, im Ausland bei einem Notar oder einer vergleichbaren Institution abgegeben werden, allenfalls können zwei namentlich anzugebende Zeugen die Stimmabgabe im Ausland kontrollieren. Künftig soll dies entfallen, der Wählende hat nur „an Eides statt zu erklären, dass die Stimmabgabe persönlich und geheim erfolgt ist“. Wollen wir darüber rätseln, wie oft eine solche Erklärung überprüft werden wird? Sprechen wir es offen aus: Diese Erklärung ist genauso sinnvoll wie die von Touristen bei ihrer Einreise in gewisse Länder verlangte Erklärung, sie seien kein Mitglied einer terroristischen Vereinigung.

In Wahrheit handelt es sich also um ein bewusstes Aufweichen des Prinzips des geheimen Wahlrechts; mit der von Poier vorgeschlagenen „Vereinfachung“ würde der Ausnahmecharakter der Briefwahl wegfallen, vielmehr die Bürger frei wählen können, ob sie geheim abstimmen oder nicht. Hier wird an einem Grundpfeiler der Demokratie gebohrt. Noch ist der Schaden überschaubar. Aber es ist die Reform ja, wie Poier betont, ein „Meilenstein“ in einer „Entwicklung“. Und es stellt sich die Frage, wohin diese Entwicklung noch führen wird.

Handzeichen zu Beginn

Da dies nicht vorhergesagt werden kann, sei es gestattet, in die Vergangenheit zu blicken: In den Anfangstagen des Parlamentarismus in Österreich existierte keine Pflicht zur Geheimhaltung der Wahl. Im Gegenteil: Die Wahlen erfolgten öffentlich, zumeist durch Handzeichen. Eine Geheimhaltung wurde vielfach als feige eingestuft – zu seiner politischen Überzeugung solle man offen stehen! Es ist hier kein Platz, die hunderten Fälle der Wahlmanipulation, Einschüchterung und Bestechung von Wählern anzuführen, die stattfinden mussten, bis sich die Überzeugung durchsetzte, dass die Wahl geheim stattfinden müsse, um ihre Freiheit sicherzustellen. Allgemein wurde das Prinzip der geheimen Wahl erst 1896 eingeführt. – Aber es sei auf jenes Plebiszit der jüngeren Vergangenheit hingewiesen, bei dem der Frage der Geheimhaltung entscheidende Bedeutung zukam: Der Volksabstimmung vom 10. April 1938 über den „Anschluss“. Sie brachte bekanntlich ein Ergebnis von 99,6% Ja-Stimmen, ein Ergebnis, das unter demokratischen Verhältnissen wohl kaum zustande gekommen wäre. Dabei war ausdrücklich vorgeschrieben, dass die Volksabstimmung „frei und geheim“ stattfinden solle, die Stimmzelle sollte so beschaffen sein, „dass der Stimmberechtigte in der Zelle unbeobachtet von allen anderen im Stimmlokal anwesenden Personen den Stimmzettel ausfüllen und in den Umschlag geben kann“. Doch wurde das Gerücht im Umlauf gebracht, dass heimliche Kontrollen stattfinden würden. Wahlzellen wurden aufgestellt, aber wer hineinging, machte sich schon verdächtig. Vielfach wurden Wähler sogar mit mehr oder minder starkem Druck aufgefordert, doch gleich vor der Wahlkommission zu votieren. In manchen Ortschaften gerieten die Wahlen zu Volksfesten, bei denen die Stimmzettel offen auflagen...

Die Geheimhaltung der Wahl muss für alle gleichermaßen verbindlich gelten, sonst verliert sie ihren Sinn. Der Zustand von 1938 ist noch lange nicht erreicht, aber jeder Schritt, der in diese Richtung geht, ist gefährlich. Es ist Aufgabe der Verfassung, auch Vorkehrungen zu treffen für Fälle, die aus heutiger Sicht unwahrscheinlich, aber nie auszuschließen sind. Es ist Aufgabe der Politiker, Gefahren der Demokratie schon im Keim zu ersticken.

Der Autor ist Ao. Univ.-Prof. am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien.

DIE REFORM

Wahlrecht. Neben einer Verlängerung der Legislaturperiode und der Senkung des Wahlalters auf 16 bringt die Reform eine Briefwahl im Inland – auf begründeten Antrag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2007)

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