Google: Vergessen Sie das Recht auf Vergessen

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Der EuGH schafft bloß das Recht, das Recherchieren im Web etwas zu erschweren. Jetzt zu klagen wäre aber der falsche Schritt, wie man schon von Barbra Streisand lernen konnte.

Frankfurt. Von wegen Recht auf Vergessen: Für Mario Costeja González, den Kläger im Verfahren gegen Google, wird sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von vergangener Woche als Bumerang erweisen. Wer heute im Internet nach seinem Namen sucht, findet an erster Stelle wieder einen Link zu einem Dokument, das unter Namensnennung über die Zwangsversteigerung seines Grundstücks berichtet: genau jenes Urteil, das Herr Costeja erwirkt hat.

Hier liegt die von vielen Kommentatoren verkannte traurige Ironie: Nun wird auf ein aktuelles Dokument (ein Urteil!) verlinkt, das sich auf eine Person bezieht, die im öffentlichen Interesse steht. Diese Links werden selbst bei einer äußerst großzügigen Auslegung der Luxemburger Richterworte nicht verschwinden. Wie so oft im Internet hat sich auch für den Spanier der Versuch, Informationen zu löschen, als Eigentor erwiesen.

Streisands Residenz in Malibu

Das ist der „Streisand-Effekt“, benannt nach der US-Schauspielerin, die 2003 versucht hat, ein Luftbild ihrer Residenz in Malibu zu löschen. Dieses war unbeachtet als eines von 12.000 online gestellt worden, um die Erosion der Küstenlinie Kaliforniens nachzuweisen. Vor ihrer Klage hatte es gerade einmal sechs Downloads gegeben, davon zwei von Streisands Anwälten. Nach ihrer Klage erhielt die Seite binnen eines Monats 420.000 Besuche – und das war 2003.

Schon jetzt löschen Suchmaschinenbetreiber unzählige Links, meist wegen Urheberrechtsansprüchen, die oft nur erhoben und nicht gerichtlich geklärt werden. Dadurch ist die Erinnerungskultur des Abendlandes nicht untergegangen. Das Urteil ist auch kein „Sieg über Google“, wie vielerorts zu lesen ist. Nüchtern betrachtet stellt es lediglich eine unaufgeregte Fortschreibung der grundrechtssensiblen jüngeren Judikatur des EuGH im Internetzeitalter dar (man denke an das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung!). Das Urteil ist nicht besonders spektakulär – ein neues Recht auf Vergessen (eigentlich: Vergessenwerden) sucht man vergebens.

Was der EuGH wirklich urteilt, ist viel profaner: Neben wichtigen Ausführungen zur sachlichen und örtlichen Anwendbarkeit europäischen Datenschutzrechts betonen die Richter, dass die Datenschutzrichtlinie im Licht der Grundrechte ausgelegt werde. Besonders die Achtung des Privatlebens und der Schutz personenbezogener Daten sind einschlägig. Jeder gegen einen Suchmaschinenbetreiber gerichtete Löschanspruch macht eine Einzelfallprüfung notwendig, um einen angemessenen Ausgleich zwischen dem „berechtigten Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern“ und den Grundrechten der betroffenen Person zu finden. Dieser Ausgleich, so der Gerichtshof in einer nebulösen Passage, werde außer in „besonders gelagerten Fällen“ (etwa wenn die Person eine öffentliche Rolle innehat) zugunsten des Einzelnen ausgehen. Gerade in Hinblick auf die wachsende Bedeutung des Internets als öffentlicher Kommunikationsraum mit widerstreitenden Grundrechtsansprüchen hätte hier mehr Klarheit gutgetan. So bleibt der Kriterienkatalog für Gegenausnahmen von der Löschpflicht sehr schemenhaft.

Nirgendwo werden die Konturen eines Rechts auf Vergessen gezeichnet. Man findet lediglich ein Recht, Verlinkungen löschen zu lassen, wenn das verlinkte Dokument wegen Zeitablaufs nicht mehr erheblich sein sollte und wenn weder das wirtschaftliche Interesse des Suchmaschinenbetreibers noch das „Interesse der breiten Öffentlichkeit“ überwiegt, diese Informationen zu finden.

Zensurgefahr anderswo

Das wird zu keiner Geschichtsfälschung führen, sondern nur – in Einzelfällen – die Suche nach bestimmten Daten über eine Person schwieriger machen. Es irritiert nachhaltig, wenn Urteilskritiker den Beginn des Endes des freien Internets sehen. Von Zensur kann keine Rede sein; zu eng definiert sind die Ansprüche Betroffener. Zensurgefahr geht eher von der Delfi-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus, der Nachrichtenportalen in bestimmten Fällen die Verantwortung für Kommentare auf ihren Foren zuschiebt und damit, nun wirklich, de facto eine Vorzensur verlangt.

Das Google-Urteil wird nicht schlagartig zu viel mehr Löschanträgen führen. Dies legen Erfahrungen in Deutschland nach dem Autocomplete-Urteil des Bundesgerichtshofs nahe. Damit wurde Google 2013 dazu verpflichtet, beleidigende Selbstvervollständigungen der Suchmaschine bei Namenssuchen zu löschen. Eine Antragsflut blieb aus. Ein „Albtraum für Google“, wie „Die Welt“ titelte, ist das nun ergangene Urteil also nicht.

Für die anwaltliche Praxis ist etwas anderes von unmittelbarerer Bedeutung: Anwälte müssen ihren Klienten nachdrücklich davon abraten, vorschnell den Rechtsweg zu beschreiten. Die Gefahr eines Streisand-Effekts ist zu groß. Das müsste inzwischen auch Mario Costeja González realisiert haben.

Nehmen wir das Urteil doch eher zum Anlass, effektiver über den Schutz von Grundrechten im Internetzeitalter zu diskutieren. Wie wir dank Edward Snowden wissen, geht die größte Gefahr für unsere Privatsphäre mit Sicherheit nicht von Namenssuchen im Internet und Links auf alte Artikel aus.


Dr. Kettemann, LL.M. (Harvard), ist Völker- und Internetrechtler am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt und Lektor an der Uni Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2014)

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