Die Chance von Stein: Neue Wege im Maßnahmevollzug

(c) Manfred Seeh
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Psychisch kranke Rechtsbrecher. Es gibt in Österreich bereits Modelle, von denen für die geplante Reform gelernt werden kann.

Wien. Nach der Veröffentlichung der Fotos eines schwer vernachlässigten Insassen aus der Maßnahmenabteilung der Justizanstalt Stein fordert Justizminister Brandstetter eine grundlegende Reform des Maßnahmenvollzugs. Der Nationalrat plant einen U-Ausschuss. Der Anlassfall verleiht dem Reformeifer hoffentlich die Wucht, die nötig sein wird, um diesen schwierigen Bereich zu verändern. Eine aktuelle Studie, die am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie erstellt wurde, zeigt Wege auf.
Je mehr Maßnahmenklienten es gibt – und ihre Zahl ist in den vergangenen Jahren massiv auf rund 900 gestiegen –, umso schwieriger ihre Betreuung. Nach dem Strafgesetz kann die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unter bestimmten Voraussetzungen bedingt nachgesehen werden. In Salzburg, wo von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht wird, kommen zwei von drei unzurechnungsfähigen Tätern, sogenannten Einsern (benannt nach § 21 Abs 1 StGB), nicht in den Maßnahmenvollzug, sondern werden nach einer vorläufigen Anhaltung in eine gut betreute und kontrollierte Freiheit entlassen. Würden alle Gerichte wie die Salzburger urteilen, wären im Jahr 2010 nicht 84, sondern nur 28 „Einser“ in den Maßnahmenvollzug eingewiesen worden.
Diese Praxis, in der Szene als Salzburger Weg bekannt, setzt ein hohes Maß an Kooperation zwischen Justiz, Psychiatrie und Sozialarbeit voraus und benötigt ein dichtes Betreuungsnetz außerhalb der Gefängnismauern, das bereits während der vorläufigen Anhaltung aktiv wird. Daher kann das Salzburger Modell nicht einfach auf andere Regionen übertragen werden. Als Best-practice-Modell zeigt es jedoch auf, wie dieses wesentliche Instrument zur Verringerung der Einweisungen genützt werden kann.
Nicht nur eine regionale Ausweitung könnte Entlastung bringen. Auch die sogenannten Zweier (§ 21 Abs 2) können von dieser bedingten Nachsicht profitieren, tun es de facto aber kaum. Bei diesen psychisch kranken Straftätern, denen die Zurechnungsfähigkeit und damit die Schuldfähigkeit nicht abgesprochen wird, verhängt das Gericht eine Haftstrafe und die Maßnahme; beide zusammen könnten unter Auflagen bedingt nachgesehen werden. Angesichts der Tatsache, dass bei über einem Fünftel der Eingewiesenen die Freiheitsstrafe nicht über einem Jahr liegt, scheint hier Potenzial zu bestehen.
Der Maßnahmenvollzug muss sich, das schreibt die Europäische Menschenrechtskonvention vor, räumlich und in seiner Ausgestaltung von der normalen Strafhaft unterscheiden. Derzeit befinden sich nur 100 der 427 zurechnungsfähigen Maßnahmeninsassen („Zweier“) in der Sonderanstalt Mittersteig. Alle anderen sind in Abteilungen normaler Strafhäuser.
Eine Maßnahme ist „so lange zu vollzuziehen, wie es ihr Zweck erfordert“, also jemand als gefährlich gilt. Im Gegensatz zu den „Einsern“, bei denen bei guter Compliance durchaus Behandlungserfolge erzielt werden, gelten die „Zweier“ als besonders schwierige Gruppe. Der hohe Anteil an Sexual- und Gewaltdelikten unter den „Zweiern“ beunruhigt mehr als die gefährlich drohenden „Einser“. Dennoch, nein gerade deshalb muss die Justiz den Abbau der Gefährlichkeit durch entsprechende Therapieangebote ermöglichen.

Massive Überbelegung


In der massiv überbelegten Maßnahmenabteilung in Stein ist eine solche Veränderung kaum möglich. Es fehlen sozialtherapeutische Konzepte, um jenen, die behandelbar sind, die Möglichkeit zu geben, ihre gefährlichen Anteile in den Griff zu bekommen. Aber auch um unmotivierte, psychisch Kranke wie den vernachlässigten Häftling muss sich die Justiz professionell und menschenwürdig kümmern.
Dazu sind andere Rahmenbedingungen nötig als ein Hochsicherheitsgefängnis. Nicht zusätzliche Justizwachebeamte, sondern eine massive Aufstockung der pädagogischen, sozialen, psychologischen und medizinischen Dienste im Gefängnis und mehr Kooperation mit draußen sind dazu nötig. Darüber hinaus sollte man Modelle des Rechts- und Patientenschutzes aus anderen Bereichen der Unterbringung und (Zwangs-)Behandlung auf ihre Übertragbarkeit für den Maßnahmenvollzug prüfen.
Der dritte Ansatzpunkt für Reformen ist die Entlassung. Es gilt die von Studien heftig kritisierte Qualität mancher Gutachten, die über das Weiterbestehen der Gefährlichkeit und damit über die Entlassung entscheiden zu erhöhen. Auch die Vorbereitung der Entlassung durch die Fachdienste in den Anstalten kann für Richter bei ihrer Entscheidung, ob sie jemanden aus der Maßnahme entlassen, hilfreich sein.
Heute kommt jeder dritte „Einser“, der entlassen wird, aus dem Forensischen Zentrum in Linz Asten, obwohl dort nur ein Viertel der unzurechnungsfähigen Maßnahmeninsassen untergebracht ist. Auch dort kooperieren Vollzugsgericht und Anstalt eng. Zusammen suchen sie nach passenden „sozialen Empfangsräumen“. Ohne sie kann es keine Entlassung geben. Da der Maßnahmenvollzug Bundessache ist, für die Finanzierung der Nachbetreuung jedoch die Länder zuständig sind, stehen schwierige Verhandlungen bevor.

Veronika Hofinger und Alexander Neumann sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie.

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