Beginnt der Mensch erst mit dem Studium?

Julian Nida-Rümelin
Julian Nida-Rümelin(c) EPA (Roland Scheidemann)
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Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin über „Akademisierungswahn“ und den Verrat der Sozialdemokraten an ihren Wählern.

Die Presse: In Österreich wird demnächst wieder über den Uni-Zugang diskutiert. Die SPÖ stellt als klare Bedingung, dass es nicht weniger Studienanfänger geben darf. Sehen Sie das anders?

Julian Nida-Rümelin: Ja. Wir haben – in Österreich nicht ganz so extrem wie in Deutschland – einen fast exorbitanten Anstieg der Studienanfängerquoten. Und das korrespondiert nicht mit Bedarfsprognosen. Zwar sollte man die Entscheidung in erster Linie von den Präferenzen der Menschen abhängig machen – aber man muss auch den Arbeitsmarkt berücksichtigen.

Sie sind Sozialdemokrat. Gerade die Sozialdemokratie tritt massiv für Bildungsexpansion ein. Wer hat da etwas falsch verstanden?

Man kann es zuspitzen und sagen: Die Sozialdemokratie sollte ihre eigene Wählerbasis nicht verraten.

Sie sollte dafür sorgen, dass es weiter genügend Arbeiter gibt.

Die Basis des sozialdemokratischen Elektorats sind die Facharbeiter, bis heute. Und wenn die Sozialdemokratie die Botschaft vermittelt, dass der Mensch erst mit dem Studium beginnt, wertet sie die eigene Wählerbasis ab. Das ist einer der Gründe, warum die Wahlergebnisse so miserabel sind.

Matura, Studium: Das ist ja kein rein politisches Ziel – die Eltern wünschen sich auch die beste Bildung für ihre Kinder. Das kann man ihnen ja nicht verwehren.

Niemand verwehrt irgendjemandem etwas. Aber man muss schon darauf hinweisen, dass Absolventen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Fächer im Schnitt eine weniger gute sozioökonomische Perspektive als etwa nicht akademische Techniker haben.

Die Entscheidung fällt in den seltensten Fällen zwischen Soziologie und einer Informatiklehre.

Ich kenne manche, die zwischen Philosophie und Schreiner schwanken. Ich habe zwischen Physik, Philosophie und Kunst geschwankt.

Aber Sie haben nicht damit geliebäugelt, eine Lehre zu machen.

Ich habe damit geliebäugelt, gar nicht erst zu studieren.

Sie schreiben in Ihrem Buch über den „Akademisierungswahn“. Ist es denn wirklich so schlimm?

Österreich und Deutschland heben langfristig eine zu niedrige Akademikerquote, in Österreich liegt sie bei 14 Prozent. Knapp unter 30 Prozent wären gut. Aber man soll keine Verdrei- oder Vervierfachung anpeilen, darauf läuft jedoch der gegenwärtige Trend hinaus.

Vor diesem Trend warnen Sie.

Es hat keinen Sinn, sich in die Tasche zu lügen. Man kann nicht sagen: Wir freuen uns über jeden zusätzlichen Studierenden, egal, was passiert. Wenn dieser Trend so weiterläuft, ist das System beruflicher Bildung nicht überlebensfähig. Deutschland hat eine Abiturientenquote von 57 Prozent. Ohne jene, die keinen Abschluss schaffen, bleiben nur 30 Prozent für die Vielfalt von Berufen, vom Bäcker über den Verkäufer bis zur Erzieherin.

In Österreich liegt die Maturantenquote bei 44 Prozent. Und wegen der berufsbildenden höheren Schulen stellt sich die Situation auch ein bisschen anders dar.

In Österreich ist es noch etwas entspannter. In Deutschland ist die Entwicklung deutlich extremer.

Wie wollen Sie einen AHS-Maturanten dazu bringen, eine Lehre zu machen?

Das will ich ja nicht. Es geht ja nur um Botschaften. Ich kritisiere, dass über Jahrzehnte eine Botschaft gesendet wurde: „Wenn ihr nicht studiert habt, habt ihr keine Chancen.“ Diese Bildungsideologie ist nachweisbar irrig.

In Österreich gibt es den Slogan „Karriere mit Lehre...“

Das hat nicht so recht gezogen? Ist vielleicht auch zu simpel.

Wie wollen Sie dem begegnen?

Ich will dem nicht mit Bildungsplanwirtschaft begegnen, sondern mit einer Stärkung der beruflichen Bildung. Und in den allgemeinbildenden Schulen mit mehr handwerklichen, technischen, gestalterischen und sozialen Kompetenzen.

Letzteres klingt utilitaristisch.

Die Einbeziehung von Handwerk und Technik ist nicht mit Berufsorientierung gleichzusetzen. Ich meine, dass zu einer vollen Bildung das Handwerklich-Technische gehört – so wie das Soziale, das Musische, das Künstlerische und das Ästhetische. Das dient der Persönlichkeitsbildung aller, auch denjenigen, die später Germanistik studieren.

Wie packt man all das hinein? Die Lehrer ächzen ja schon jetzt.

Aber nur, weil jeder Fachlehrer auf Teufel komm raus auch die abwegigsten Inhalte seines Fachs in den Curricula abgebildet haben will.

Was könnte man denn streichen?

In Bayern müssen die Kinder die Namen der Halligen auswendig lernen, Mitteldinger zwischen Sandbank und Insel. Wir bringen den Kindern viel zu viel Stoff bei. Ich würde sagen: Stofffülle reduzieren, dafür mehr Vertiefung, mehr Reflexion, mehr eigenes Lernen, mehr Extra-muros-Aktivitäten.

Und auch mehr Kompetenzen?

Die Kompetenzorientierung, in der es nicht um fachliches Wissen geht, sondern nur um die Anwendung, ist ambivalent. Je oberflächlicher diese Kompetenzen definiert werden, desto problematischer ist das.

Sie stehen ja dem PISA-Test relativ kritisch gegenüber.

PISA misst etwas Wichtiges: ob man Gebrauchstexte versteht, wie es mit dem mathematischen und naturwissenschaftlichen Verständnis aussieht. Aber es ist interessant, was nicht dabei ist: Allgemeinwissen, historisches Wissen, eine erste Fremdsprache. Warum wohl? Weil die USA die Hälfte des OECD-Etats stellen. Und weil sie dann nicht schlecht, sondern grottenschlecht abgeschnitten hätten.

ZUR PERSON

Julian Nida-Rümelin (60) ist ein deutscher Philosoph. Im ersten Kabinett Schröder war er Kulturstaatsminister (SPD). Mit seinem jüngsten Buch, „Der Akademisierungswahn“ (Edition Körber-Stiftung), erregte er im Vorjahr Aufsehen. Nida-Rümelin war im Rahmen des Visionsprozesses der Technischen Universität Wien zu Gast in Österreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2015)

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