"Big Brothers Big Sisters": Wenn Mandy mit ihrer Mentorin liest

(c) Wenninger / BBBS
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Das Programm Big Brothers Big Sisters hat in Wien bereits mehr als 100 Kinder und Jugendliche mit erwachsenen Begleitern zusammengebracht. Was sie tun: Zeit schenken.

Wien. Munter marschiert Mandy (7) die Stiegen der Hauptbücherei am Gürtel hinauf, bis sie strahlend in der Kinderbuchabteilung steht. „Eigentlich wollte ich ihr ja die Bibliothek zeigen“, sagt Christa Salvenmoser (43). „Aber anders als ich war Mandy schon einmal da.“ Auch nicht schlimm – so erlebt eben Salvenmoser etwas Neues und Mandy hat gleich ein Erfolgserlebnis.

Und das ist ja eigentlich ein guter Auftakt für die vier, fünf Stunden, die die zwei heute miteinander verbringen werden. Seit Mai holt Salvenmoser die Kleine alle zwei Wochen zu Hause ab. Sie waren gemeinsam im Zirkus, im Prater, im Kino. „Und jetzt haben wir uns vorgenommen, dass wir ab und zu einmal etwas gemeinsam lesen.“

Die zwei sind ein eher ungleiches Paar: Mandy, die Zweitklässlerin mit serbischem Hintergrund aus Simmering, mit ihrer forschen Art („Was ist dein Lieblingstier? Was ist dein Lieblingsobst?“), und die ruhige, stets lächelnde Christa, Führungskraft bei IBM. Die 43-Jährige ist keine Erzieherin, keine Nachhilfelehrerin, kein Babysitter, sondern Mandys Mentorin: jemand, der vor allem Zeit mit ihr verbringt, exklusiv und regelmäßig. „Eine Erweiterung des Beziehungsangebots“, so nennt Oliver Wenninger es.

Wenige Programme in Wien

Der Psychologe hat vor mittlerweile drei Jahren in Wien einen Ableger von Big Brothers Big Sisters (BBBS) aufgebaut, einem internationalen Mentoringprogramm, das vor gut hundert Jahren in den USA entstanden ist. Anders als in Berlin (siehe Artikel rechts) sind derartige Initiativen in Wien eher die Ausnahme: Was es neben BBBS noch gibt, ist etwa Nightingale von den Kinderfreunden und interkulturelles Mentoring, das speziell auf Migrantenkinder abzielt.

Dabei wäre der Bedarf enorm, wie Wenninger sagt. BBBS hat im Juli in Wien die Hundertermarke geknackt: 104 Kinder und Jugendliche in herausfordernden Lebenssituationen – aus zerrütteten, sozial schwachen, geflüchteten Familien – treffen sich inzwischen regelmäßig mit ihren erwachsenen Mentoren. Ein fixes Programm gibt es dabei nicht: Die einen gehen in die Bücherei, die anderen suchen sich Hobbys, wieder andere verbringen einfach Zeit miteinander.

„Es klingt banal, aber allein, wenn man jemandem Zeit schenkt, tut sich sehr viel“, sagt Wenninger. „Dass da jemand ist, der einem zuhört, der nichts von einem will, der einem aber etwas zeigt – ohne erhobenen Zeigefinger. Das macht viel aus.“ Internationalen Evaluierungen zufolge schneiden die von BBBS begleiteten Jugendlichen in der Schule besser ab, haben weniger psychische Probleme und mehr Selbstvertrauen. Das Wiener Programm soll demnächst von der Sigmund-Freud-Uni evaluiert werden.

Anekdotische Evidenz für die Wirksamkeit hat Wenninger reichlich: Da ist etwa Manduul (15), der seit zweieinhalb Jahren die Kinderjudogruppe seines Mentors mitbetreut. „Der war auf verlorenem Posten – inzwischen ist er ein guter Schüler und geht im Herbst in eine HTL.“ Oder Oliver (11), der mit seinem 73-Jährigen Mentor im Frühling Radfahren gelernt hat. „Da geht es um viel mehr als Fahrradfahren“, sagt Wenninger. „Das ist: ,Ich habe etwas geschafft.‘“

Keine Konkurrenz zu Eltern

Die Kinder kommen über die verschiedensten Kanäle zu BBBS: viele über engagierte Lehrer, andere direkt vom Jugendamt – mit dem der Verein eine Kooperation hat – oder anderen Sozialeinrichtungen. Die ehrenamtlichen Mentoren durchlaufen ein relativ strenges Auswahlverfahren – und sollen übrigens keine Konkurrenz zur Familie sein, auch, wenn der Name Big Brothers Big Sisters es suggeriert.

„Es soll ein Zugewinn sein“, sagt Wenninger. „Wir verurteilen die Familien nicht. Wir begleiten sie, sind regelmäßig in Kontakt. Viele sehen selbst: Mein Kind bräuchte etwas, das ich ihm gerade nicht geben kann.“ Mandy etwa lebt mit Mutter und Stiefvater zusammen, mit zwei Geschwistern, zwei Stiefgeschwistern und dem neugeborenen Halbgeschwisterchen.

„Die Mutter hat derzeit einfach nicht die Kapazität, sich so zu engagieren, wie es Mandy guttun würde“, sagt Christa Salvenmoser. Da springt nun eben sie ein. Was sie – selbst kinderlos – der Siebenjährigen mitgeben möchte: neue Impulse. „Dass sie andere Sachen sieht – und vielleicht kann ich eine gewisse Vorbildwirkung haben.“

Und natürlich auch Spaß – es geht ja auch um das indirekte Lernen durch Sachen, die Freude machen. Nach der Bibliothek geht es deshalb zur Hüpfburg. Und vielleicht zu McDonald's. „Ja, Mandy mag es halt.“ Und es gibt schließlich nicht bei jedem Treffen Fast Food – sondern manchmal auch gemeinsam gemachte Palatschinken.

AUF EINEN BLICK

Big Brothers Big Sisters wurde vor 110 Jahren in den USA gegründet. Vor drei Jahren wurde das Programm in Wien aufgebaut. Der Bedarf wäre groß: Rund 500 Kinder könnte der Verein sofort vermitteln. Größtes Thema ist derzeit aber das Geld – das man u. a. für die Auswahl der Mentoren und die laufende Begleitung der Tandems braucht. Alle Infos: bigbrothers-bigsisters.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2015)

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