Experte warnt: „Der Staat kann vieler Akteure nicht mehr habhaft werden“

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Christoph Grabenwarter, Präsident des Österreichischen Juristentags, spricht über neue Gefährdungen des Rechtsstaats, die Flüchtlingskrise und Reformbedarf in der Verfassung.

Die Presse: Am Mittwoch behandelt der Nationalrat das Durchgriffsrecht. Ist es nicht ein Armutszeugnis für einen hoch entwickelten Rechtsstaat, dass es einer Verfassungsbestimmung bedarf, um Kriegsflüchtlingen angemessene Unterkünfte zu verschaffen?

Christoph Grabenwarter: Es ist interessant, dass man im Jahr 2012 Artikel 15 Absatz 5 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) abgeschafft hat, der einen Teilbereich der neuen Kompetenz abgedeckt hat, nämlich die bundeseigenen Gebäude. So neu ist das Bedürfnis des Bundes, in Länderkompetenzen einzugreifen, also nicht. Es ist eben wieder ein Anlassfall, bei dem die Gesetzgebung glaubt, sehr rasch reagieren zu müssen. Der Bundesstaat ist herausgefordert, und interessanterweise soll auch das im Vergleich zum B-VG relativ statische deutsche Grundgesetz eine Änderung erfahren. Wir sind europaweit in einer Ausnahmesituation.

Man wünschte sich in anderen Bereichen vielleicht auch ein Durchgriffsrecht: bei der Gesundheitspolitik, Bildungspolitik, den Pensionssystemen der Länder.

Sie sprechen das Grunddilemma der Kompetenzverteilung und die Frage an, ob sie noch zeitgemäß ist. Der Österreich-Konvent hat vor zehn Jahren verschiedene Modelle vorgelegt. Wir haben heute noch immer einen Kompetenzverteilungskatalog, der vielfach an Begriffen und Lebensrealitäten des 19.Jahrhunderts orientiert ist. Wir sind heute in einer komplexen Welt angekommen, wo Begriffe wie das „Triftwesen“ die heutigen Materien nicht mehr abbilden. Dass in einer Straße am Südrand Wiens auf der einen Seite ein anderes Jugendschutzgesetz als auf der anderen gilt, wo doch die Jugendlichen heute viel mobiler in ihrem Freizeitverhalten sind, ist nicht mehr angemessen. Solche Beispiele könnte man fortführen.

Dazu kommt, dass wir in der EU eingebettet sind, die vielfach die zehn österreichischen Gesetzgeber zu einem Gutteil ablöst.

Ja, wir haben in vielen Bereichen den Xerox-Föderalismus: Zehn Gesetzgeber schreiben eine Richtlinie mehr oder weniger ab. Auch da muss man sich fragen: Gibt man den Landtagen neue Aufgaben?

Wobei man ihnen aber jetzige Aufgaben abnimmt.

Genau. Indem man sich bei der Kompetenzverteilung überlegt, Dinge, die EU-rechtlich vorgegeben sind, eben nicht mehr abzupausen.

Können Rechtsstaaten der Situation mit zigtausend Flüchtlingen auf unfreiwilliger, oft tödlicher Wanderschaft Herr werden?

Der Rechtsstaat kommt zumindest an seine Grenzen, wenn durch Maßnahmen anderer Staaten in kürzester Zeit massive Änderungen im Fluchtverhalten einer großen Zahl von Menschen eintreten. Man sollte das Legalitätsprinzips nicht mit dem Hinweis auf einen Notstand leichtfertig aushebeln. Aber eine angemessene Reaktionszeit muss man den österreichischen Organen zubilligen. Auch dem Gesetzgeber.

Was wäre eine europäische Lösung für die Flüchtlinge?

Die Schaffung einer europäischen Asylbehörde mit einer spezialisierten gerichtlichen Kontrolle wäre ein sinnvoller Schritt. Das hat im Übrigen auch der Österreichische Juristentag gefordert. Asyl ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Lösung auf mitgliedstaatlicher Ebene im Sinn des Subsidiaritätsprinzips nicht mehr möglich und die Union in der besseren Situation ist. Hier bedarf es eines koordinierten Zugangs.

Aber tatsächlich funktioniert die Solidarität in der Union nicht.

Der rechtspolitische Ruf nach einer unionsweiten einheitlichen Regelung ist die juristische Seite. Die faktische Frage ist, ob die Organe in der Lage und willens sind, die Kompetenz auszuüben. Aber man muss ganz klar für ein einheitliches Vorgehen auf Unionsebene eintreten. Das Dublin-System basiert ja auf der Annahme, dass bestimmte Rechtsgebiete im Einklang mit den Menschenrechten und rechtsstaatlich vollzogen werden. Und wir wissen seit 2011, dass das nicht überall geschieht. Für Griechenland haben wir es schwarz auf weiß von beiden europäischen Gerichtshöfen, für Ungarn ist die Praxis des Verfassungsgerichtshofs so, dass man die Augen vor der Realität nicht verschließt. Das Dublin-System kann nicht funktionieren, wenn elementare Menschenrechte nicht mehr gewährleistet sind.

Zurückschieben in ein überfordertes Land ist unmöglich.

Das kann man jedenfalls für Griechenland sagen, in dem Moment, in dem in einem Staat Bedingungen herrschen, die mit Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, Anm.) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unvereinbar sind, wird aus dem Selbsteintrittsrecht beim Asylverfahren eine Selbsteintrittspflicht des Staates.

Was halten Sie von Ungarns Zaun an der EU-Außengrenze und der Art, ihn zu sichern?

Aus den Bildern, die wir sehen, entsteht der Eindruck, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt wurde. Zäune sind grundsätzlich keine Lösung. Wir haben sie vor 25 Jahren mitten in Europa abgebaut, und wir wissen, was es heißt, wenn es Zäune gibt: Mitten in Berlin sind Menschen gestorben. Sie sind auch rein praktisch keine Lösung: Es gibt eine Außengrenze der Union, die man nicht mit Zäunen versehen kann, das ist das Meer. Man wird nie verhindern können, dass Menschen in Not nach Europa kommen.

FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl will die EMRK auf europäischer Ebene erneuert oder durch eine österreichische Menschenrechtskonvention ersetzt wissen. Was halten Sie davon?

Die EMRK, wie wir sie seit rund 60Jahren in Österreich leben, ist das Herzstück unserer Verfassung im Grundrechtsbereich. Wir konnten uns nie auf einen innerstaatlichen Menschenrechtskatalog einigen. Aber wie kein anderes Land haben wir die EMRK mit Leben erfüllt und sie in vorbildlicher Weise Schritt für Schritt umgesetzt. Es wäre nicht gut, würden wir davon abgehen. Die EMRK ist ein, wenn nicht das Rückgrat unseres Rechtsstaats. Sie wegen einzelner Änderungswünsche über Bord zu werfen wäre ein großer Schaden.

Wo sehen Sie Gefährdungen des Rechtsstaats?

Die Gefährdung des Rechtsstaats ist heute nicht mehr der willkürliche Beamte in einer Bezirksverwaltungsbehörde. Anfechtungen kommen von ganz anderer Seite. Das ist einmal die Internationalisierung: Der Staat, der den Rechtsstaat gewährleistet, kann vieler Akteure nicht mehr habhaft werden. Ich spreche nicht von Kriminalität, sondern von großen internationalen Konzernen, von Informationstechnologie, bei der der Rechtsstaat schlicht nicht hinkommt. Mit der Internationalisierung sind auch Gefährdungen durch private Akteure angesprochen, die heute Aufgaben übernehmen, in denen der Staat nur noch zum Teil tätig ist. Denken Sie an den Schutz sensibler Daten wie Gesundheits- und Kommunikationsdaten: Die Informationstechnologie ermöglicht so viel mehr an potenziellen Datenschutzeingriffen, dass Gefährdungen da sind und sich die Frage stellt, ob der Staat mit seinen Rechtsschutzeinrichtungen noch der Sache nachkommt. Und wir haben dadurch Gefährdungen, dass wir zwar ein ausziseliertes Gerichtssystem haben, dass der Gerichtsweg aber oft wegen sehr hoher Gerichtsgebühren für manche nicht mehr leistbar ist.

Bleiben wir den internationalen Akteuren ausgeliefert?

Eine Antwort im Bereich des Internationalen ist die europäische Integration. Solche Probleme löst man auf Unionsebene ein Stück weit leichter als in einem kleinen Staat. Unser Rechtsschutzsystem ist über die Jahre ausgebauter und besser geworden; zuletzt ist etwa im Verfassungsbereich mit der Gesetzesbeschwerde eine Lücke gefüllt worden. Und wenn man in andere, auch europäische, Staaten kommt, ist man sehr zufrieden mit dem, was unsere Justiz leistet – bei aller punktueller Kritik, die es immer geben wird.

Mit der Gesetzesbeschwerde kann der Einzelne auch aus Zivil- oder Strafverfahren heraus den Verfassungsgerichtshof anrufen. Bisher scheitern viele Anträge aus formalen Gründen.

Die Praxis ist in einem Lernprozess. Aber das hat etwas sehr Positives, weil das Bewusstsein für Verfassungsfragen steigt, und zwar nicht nur bei den Parteien und ihren Vertretern, sondern auch bei den Richtern.

Sie sind jetzt Präsident des Juristentags. Er berät immer wieder auf hohem Niveau über aktuelle Rechtsthemen. Wird er im politischen Diskurs gehört?

Die Bereitschaft ist da. Sie zeigt sich auch an der Präsenz der höchsten Staatsorgane vom Bundespräsidenten abwärts. Die Fachressorts, die bei legistischen Projekten zu den ersten Adressaten zählen, schauen sehr genau hin. Die Öffentlichkeit nimmt es weniger wahr. Der Juristentag strebt nicht an, täglich in einem TV-Interview präsent zu sein; seine Tätigkeit ist auf Nachhaltigkeit angelegt. Die Gutachter nehmen sich Monate, mitunter Jahre Zeit, ein Thema gründlich zu untersuchen. Das wird deshalb nicht unaktuell: Die öffentlichrechtliche Abteilung hat sich beim heurigen Juristentag mit Mobilität und Migration beschäftigt, auch der Anlegerschutz im Zivilrecht war ganz aktuell. Und all diese Themen haben wir vor drei Jahren festgelegt. Ein Vorteil des Juristentags ist auch, dass seine Beratungen über Fachgrenzen und Berufsgruppen hinausreichen. Aber die Brücke zum rechtspolitischen Diskurs kann sicher noch stärker geschlagen werden.

ZUR PERSON

Christoph Grabenwarter, Steirer des Jahrgangs 1966, hat sich 1997 an der Uni Wien im Öffentlichen Recht habilitiert. Er hatte Professuren in Linz, Bonn und Graz inne, bevor er 2008 seine jetzige Stelle als Professor für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Völkerrecht an der WU Wien antrat. Seit 2005 ist Grabenwarter Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, seit Mai 2015 Präsident des Österreichischen Juristentags. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Menschenrechtsschutz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2015)

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