Das Märchen von den immer neuen EU-Regeln

(c) APA/EPA/GEORG HOCHMUTH
  • Drucken

Kaum ein anderes Vorurteil über die EU hält sich so hartnäckig wie die Mär, 80 Prozent der nationalen Gesetze würden von Brüssel diktiert. Ein Märchen bleibt jedoch ein Märchen - so oft man es auch erzählt.

Wien. Wie oft hat man nicht schon gehört, dass rund 80 Prozent unserer Gesetze in Brüssel gemacht werden? Zuletzt auch wieder in dieser Zeitung („Warum diese Flut an immer neuen EU-Regeln?“, 26. September). Doch die Zahlen, auf die man sich dabei stützt, sind übertrieben und verzerrt, ja, einfach falsch. Der als angeblicher Beleg angeführte Aufsatz stammt gar aus dem Jahr 2009 und umfasst ganze zwei Seiten. Es gibt keine aktuelle seriöse Studie, die auch nur im Ansatz belegt, dass die meisten Gesetze von Brüssel diktiert werden. Als einziger Anhaltspunkt für den unausrottbaren „80-Prozent“-Wiedergänger dient eine Aussage des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Dabei handelte es sich um eine Prognose – und das auch nur für den Bereich des Binnenmarktes.

Einfluss der EU überschätzt

Thomas König und Lars Mäder haben vor einiger Zeit an der Universität Mannheim aus einer quantitativen Perspektive untersucht, inwieweit die deutsche Gesetzgebung in einem Zeitraum von 30 Jahren auf etwaige europäische Impulse zurückzuführen ist. Sie haben dabei eine Qualifizierung der Gesetzgebungstätigkeit nach inhaltlichem Bedeutungsgrad und monetären Implikationen vorgenommen und untersucht, ob und in welchem Ausmaß angegebene europäische Impulse tatsächlich mit EU-Gesetzgebungsaktivitäten zusammenhängen. Das Ergebnis: der Einfluss der EU wird deutlich überschätzt. In einem Zeitraum von 30 Jahren wurde ein 80-prozentiger Anteil bei großzügiger Zählweise nur zu einem einzigen kurzen Zeitraum und in einem einzigen Politikbereich erreicht: und zwar zwischen 2002 und 2005 im Bereich Umweltgesetzgebung. Ansonsten fällt der Anteil vor allem bei „wichtigen“ Gesetzen bedeutend geringer aus. Nur bei der Hälfte aller Angaben zu einem europäischen Richtlinienimpuls konnte ein eindeutiger europäischer Ursprung nachgewiesen werden.

Was in der Diskussion um die angebliche Flut immer neuer Regeln übersehen wird: Seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages gibt es eine eklatante und anhaltende Abnahme an neuen EU-Regeln. Stieg die Zahl sogenannter Sekundärrechtsakte des Rates (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse/Empfehlungen, sonstiges) bis dahin auf jährlich 954, pendelt der Output seither nur noch um jährlich rund 600 (eigene Berechnungen auf Basis des EU-Amtsblattes bzw. Ratsdatenbanken). Wissenschafter, etwa Nicolai von Ondarza vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin, nennen drei Gründe für den Rückgang: den Lissabon-Vertrag, die Schuldenkrise und den kontinuierlichen Abbau an EU-Beamten (jährlich ein Prozent weniger Stellen).

Ein Aspekt, der beim Rückgang neuer Regeln aus Brüssel in der aktuellen politischen Diskussion – insbesondere in Österreich – regelmäßig unbeachtet bleibt: Besonders betroffen von der Reduktion sind Richtlinien. Dieses Rechtsinstrument – Vorgabe eines politischen Ziels, die konkrete Umsetzung, wie es erreicht werden soll, obliegt dem jeweiligen Mitgliedstaat – kommt kaum noch zur Anwendung. Obwohl dies ein klassisches Instrument der Subsidiarität wäre, bevorzugen die Mitgliedstaaten in den letzten Jahren Verordnungen. Diese gelten unmittelbar. Es bedarf keiner nationalen Umsetzung. Gleichzeitig nimmt man sich damit jedoch den Spielraum für individuelle Ausgestaltungen. Diese politische Selbstbeschränkung sollte jedenfalls Gegenstand weiterer Diskussionen sein.

Als weiterer Beleg, dass es natürlich immer mehr Regeln aus Brüssel gibt, wird gern auf die schiere Zunahme an Seiten des EU-Amtsblattes verwiesen. „Die Presse“ hat diesbezüglich den Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer zitiert: 60.000 Seiten Bestand 1995 (Österreichs Beitrittsjahr), aktuell furchterregende 90.000 Seiten. Hier wird geflissentlich außer Acht gelassen, was denn alles im EU-Amtsblatt veröffentlicht wird.

Numismatischer Füllstoff

Einige Beispiele: Jedes jährliche Euro-Münzbild eines jeden einzelnen Euro-Staates. Über die Jahre ein paar hundert Seiten numismatischer Fachinformation. Es werden auch alle Stellenausschreibungen (inklusive Bewerbungsbogen) publiziert: in den letzten 20 Jahren ein paar tausend Seiten. In der letzten Woche rund 250 Seiten an Entschließungen des Europaparlaments. Für Europarechts-Feinspitze eine Fundgrube an Skurrilitäten. Als Beleg für eine zunehmende EU-Normenflut jedoch ungeeignet.

Es kann empirisch belegt werden, dass die EU seit 2010 anhaltend jährlich bedeutend weniger neue echte Rechtsakte beschließt, als zuvor. Ob das den 80-Prozent-Mythos endlich zum Verstummen bringen wird?


Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und Internationale Beziehungen. Er lehrt an der Universität Salzburg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.