Gymnasien: „Schule ist viel leichter als in Syrien“

Die syrischen Jugendlichen Ola und Yousef (im Vordergrund) und der Afghane Ezatullah lernen an der AHS spielerisch Deutsch.
Die syrischen Jugendlichen Ola und Yousef (im Vordergrund) und der Afghane Ezatullah lernen an der AHS spielerisch Deutsch.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Lehrer des Gymnasiums Anton-Krieger-Gasse spendeten Applaus, als sie erfuhren, dass an ihrer Schule heuer Flüchtlinge unterrichtet werden sollen. Ein Lokalaugenschein.

Wien. Es sieht aus, als würde im Unterricht „Memory“ gespielt. Dutzende kleine, quadratische Kärtchen liegen verstreut auf dem Schultisch. „Wo ist das E?“, fragt Lehrerin Stefanie Schermann. Die 17-jährige Syrerin Ola streckt die Hand zögerlich in Richtung eines Kärtchens aus. Es ist tatsächlich jenes mit aufgedrucktem E – und einem Wort. „Isel“, liest Ola. „Esel“, korrigiert die Lehrerin, wendet das Kärtchen und zeigt das Bild des Esels in die Schülerrunde.

Ein kleines Grüppchen. Neben der Syrerin Ola und ihrem 15-jährigen Landsmann Yousef sitzt hier im Deutschkurs für Anfänger nur noch der 17-jährige Afghane Ezatullah. Die drei haben, wie auch zwölf andere Flüchtlinge, einen Platz in der Schule in der Anton-Krieger-Gasse im 23. Wiener Gemeindebezirk bekommen. Einem Gymnasium. Das ist nicht selbstverständlich. Anders als Pflichtschulen dürfen Gymnasien nämlich selbst entscheiden, ob sie Flüchtlinge aufnehmen oder ablehnen.

In der Anton-Krieger-Gasse – deren Unterstufe als Mittelschule geführt wird – wurde nicht gezaudert. Das mag auch daran liegen, dass hier der Leistungsgedanke nicht die bestimmende Rolle spielt (bei der Zentralmatura machte die Schule wegen vieler Nicht genügend Schlagzeilen). „Die Lehrer haben geklatscht, als ich ihnen gesagt habe, dass wir Flüchtlinge aufnehmen werden“, erzählt Direktor Michel Fleck. Falls Zeugnisse aus der Heimat vorhanden waren, wurden sie angeschaut und die Deutsch- bzw. Englischkenntnisse überprüft. Allzu genau hat man es mit der AHS-Reife aber nicht genommen. „Wie gut das nun funktionieren wird, wissen wir noch nicht. Ich kann aber auch bei österreichischen Kindern nicht garantieren, dass ich sie bis zur Matura bringe“, so Fleck.

470 Flüchtlinge in Schulen

Für Ola, Yousef und Ezatullah heißt es erst einmal Deutsch lernen. In Fächern wie Turnen, Zeichnen und Musik sind sie Teil der Klasse. Doch elf Stunden pro Woche lernen sie in der Kleingruppe Deutsch. Schritt für Schritt oder besser gesagt Wort für Wort. „Ezatullah, lies am besten mit dem Finger: E-l-e-f-a-n-t“, sagt Schermann. Und: „Nein, nicht ,Tiga‘ sondern ,Tiger‘.“ Neben Schermann und anderen Lehrern haben sich noch sieben Freiwillige gefunden, die mit den Flüchtlingen an der AHS Deutsch lernen.

Das ist ein höherer Personalaufwand. Das kostet (abgesehen vom Einsatz der Freiwilligen) auch zusätzliches Geld – und das ist an den Schulen meist ohnehin knapp. Der noch nicht lang zurückliegende Besuch der Stadtschulratspräsidentin, Susanne Brandsteidl (SPÖ), in der Anton-Krieger-Gasse stimmt den Direktor aber zuversichtlich: „Die Abrechnung lassen Sie unsere Sorge sein“, versprach die Stadtschulratspräsidentin. Eventuell voreilig. Denn auf Bundesebene – also zwischen Finanz- und Bildungsministerium – ist die Finanzierung noch keineswegs geklärt.

Der Wiener Stadtschulrat fährt einen bewusst flüchtlingsfreundlichen Kurs. Das liegt auch daran, dass laut diesem mehr Schulen Flüchtlinge aufnehmen wollen, als es Flüchtlinge gibt. Derzeit werden an den 670 Wiener Schulen 470 Flüchtlinge unterrichtet. Der Großteil in Volks- bzw. Neuen Mittelschulen (215 bzw. 231 Flüchtlinge). An den AHS-Unterstufen sind es 17 Flüchtlinge, an den Oberstufen 50. Für nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge, die keinen Platz in einer AHS finden, wurden eigene Colleges geschaffen. Nach diesen sollen die Jugendlichen in Regelsysteme wie Lehre, Schule oder Universität eingegliedert werden.

Erstes Referat auf Deutsch

In der Anton-Krieger-Gasse haben die meisten Flüchtlinge in der sogenannten Übergangsstufe, einem Vorbereitungsjahr für die Oberstufe, Platz gefunden. Auch die Älteren, die in der Heimat schon höhere Schulstufen besuchen würden. Zu ihnen zählt Carlos. Der 17-jährige Syrer sitzt in der letzten Reihe seiner neuen Klasse. Als im Physikunterricht über die erste Mondlandung debattiert wird, redet er mit – in sehr gutem Deutsch. Seit einem Jahr und sieben Monaten ist Carlos in Österreich. Nach einem Semester in einer NMS wurde er zu Schulbeginn in der AHS aufgenommen. Heute trägt er sich erstmals in die Referatsliste ein. In Biologie wird er über das Auge sprechen.

Auf die Frage, was der größte Unterschied zwischen dem österreichischen und syrischen Schulsystem ist, hat Carlos eine rasche Antwort: „Hier ist die Schule viel leichter als in Syrien.“ Mal sehen, ob Ola, Yousef und Ezatullah das auch irgendwann einmal sagen.

Auf einen Blick

Die Schulpflicht besteht für alle Kinder im schulpflichtigen Alter – also auch für Kinder von Asylwerbern und für Kinder, deren aufenthaltsrechtlicher Status (noch) nicht geklärt ist. Theoretisch sollten Flüchtlingskinder sofort die Schule besuchen. In der Praxis wird Rücksicht auf die psychische Verfassung der Kinder genommen. Pflichtschulen sind dazu verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, Gymnasien können selbst über die Aufnahme entscheiden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)

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