Richterin: „Deutschpflicht in Pause verletzt Privatsphäre“

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Gabriele Kucsko-Stadlmayer tritt heute ihr Amt als österreichische Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an. Mit der „Presse“ spricht sie über Massenflucht, Integration und Meinungsfreiheit .

Die Presse: Sie werden heute in Straßburg am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angelobt. Wie groß wird der Aktenberg sein, den Sie zum Empfang bekommen?

Gabriele Kucsko-Stadlmayer: Ich freue mich sehr auf die neue Aufgabe, aber es sind Aktenberge im buchstäblichen Sinn. Der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gehören 47 Staaten bis hin zum Kaukasus und über den Ural an. Im Jahr 2014 gab es mehr als 56.000 Beschwerden, da kommen auf die Richter tatsächlich sehr viele Akten zu. Man hat allerdings Unterstützung auf juristischer Ebene.

Die EMRK bietet einen weltweit einmaligen Rechtsschutz, der es jedem Einzelnen ermöglicht, ein verbindliches Urteil über einen Staat durch ein übergeordnetes Gericht zu erwirken. Kann der Gerichtshof angesichts der Fallzahlen wirksam bleiben? 55,3 Prozent der Beschwerden kommen aus nur acht Europaratsstaaten mit schlecht funktionierenden Rechtsschutzsystemen, allen voran Russland und die Ukraine.

Die Europaratsstaaten, aber auch der Gerichtshof selbst haben in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, um der Beschwerdeflut Herr zu werden. Insbesondere das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK hat eine Reihe verfahrensrechtlicher Vereinfachungen eingeführt, insbesondere das Zulässigkeitskriterium des erheblichen Nachteils für den Beschwerdeführer. Es geht ja nicht nur darum, die Zahlen zu reduzieren, sondern auch darum, jene Beschwerden herauszufiltern, die einer intensiven Bearbeitung bedürfen und in denen es um schwere Menschenrechtsverletzungen geht.

Der Gerichtshof hat 2011 im Fall M.S.S. das Dublin-System infrage gestellt, indem er eine Rückführung eines Afghanen aus Belgien ins Erstaufnahmeland Griechenland für unzulässig erklärt hat. Die Zustände dort wären unzumutbar. Gibt es einen menschenrechtskonformen Weg, der Flüchtlingskrise Herr zu werden?

Das ist geradezu notwendig! In der EU weiß man, dass einige Staaten an der Außengrenze völlig überfordert sind, insbesondere Italien und Griechenland. Eine menschenrechtskonforme Lösung ist hoffentlich auf dem Weg, und dort, wo Beschwerden an den EGMR herangetragen werden, wird dieser sicher kontrollierend einschreiten. An diesem Problem sehen wir auch, wie wichtig die externe Kontrolle durch den Gerichtshof ist. Im Lampedusa-Urteil vom September hat der EGMR etwa einen ganzen Maßnahmenkatalog zur Behandlung von Flüchtlingen in Aufnahmelagern definiert. Ein ganz wichtiges menschenrechtliches Erfordernis ist die individuelle Behandlung von Asylwerbern. Kein Asylwerber ist in genau der gleichen Lage wie ein anderer.

Ist eine individuelle Beurteilung in einem 48-Stunden-Verfahren an der Grenze denkbar – so wie es in Deutschland diskutiert wurde?

Das ist ein verständliches politisches Ziel. In bestimmten Fällen kann es erreichbar sein, etwa wenn jemand aus einem sicheren Herkunftsland kommt und offensichtlich kein Recht auf Asyl hat. Freilich muss es immer eine faire Anhörung geben. Und es ist keine wünschenswerte Forderung für alle Fälle.

Gegner des Dublin-Systems kritisieren, dass das Asylrecht vielerorts leerläuft, weil Fremde dort per Fallschirm abspringen müssten, um nicht aus einem sicheren Drittland zu kommen.

Das Dublin-System wurde schon immer kritisiert, versagt aber völlig bei Massenflucht und Migration im heutigen Ausmaß, veranlasst durch den Bürgerkrieg in Syrien und die unsichere Lage in Afghanistan oder dem Irak. Wenn so viele Menschen ihr Land verlassen müssen und auch unter Inkaufnahme größter Strapazen wollen, muss so ein System scheitern. Selbst bei gewissen Ausgleichszahlungen überfordert es die Länder an den Außengrenzen. Die EU-Kommission sieht dies und hat einen Umdenkprozess in Gang gebracht, um – neben Maßnahmen wie einer verstärkten Sicherung der Außengrenzen und finanziellen Beiträgen an die Türkei – zu einem gerechten Verteilungsschlüssel zu kommen. Leider gibt es in der EU eine ganze Reihe von Staaten, die keine dauerhafte Quotenregelung wollen.

Bietet die EMRK die nötigen Antworten auf Fragen der Integration von Fremden? Ist etwa eine Pflicht denkbar, die Sprache des Aufnahmelandes zu erlernen?

Die EMRK bietet sehr viel Spielraum, Integration von Menschen zu verlangen. Insbesondere die Gleichbehandlung von Frauen ist ein hoher Wert! Es gibt aber heikle Grenzziehungen, etwa zur Religionsfreiheit und zur Achtung der Privatsphäre, die zu wahren sind. Beim Asylrecht geht es zunächst nur um die Frage: Ist jemand verfolgt, hat er Anspruch auf Schutz?

Das Verbot der Totalverschleierung in Frankreich hat der EGMR akzeptiert. Soll das die Integration fördern?

Ja. Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass der EGMR eine integrationsfördernde Maßnahme im rechtspolitischen Ermessensspielraum der Staaten sieht. Es geht um den Versuch, Fremde zu einem Teil der Gesellschaft werden zu lassen. Das wäre ja wünschenswert.

Aber gibt es auch etwas wie ein Gebot der Integration?

In rechtlicher Hinsicht nicht. Man muss außerdem wachsam sein, damit integrationsfördernde Maßnahmen nicht zu einem Eingriff in die Freiheitsrechte mutieren. Die EMRK verlangt zum Beispiel auch, dass man Religion, Sprache und Kultur eines Menschen respektiert. Eine Deutschpflicht in der Schulpause wäre damit etwa nicht vereinbar. Die Anpassung an das Wertesystem der EMRK kann und muss jedoch verlangt werden.

Mit anderen Urteilen zog sich der EGMR viel Ärger zu. Im Fall Hirst hat er Großbritannien 2004 verurteilt, weil Strafgefangenen generell das Wahlrecht entzogen war. Während Österreich nach einer analogen Verurteilung seine Rechtslage geändert hat, verweigern die Briten dem EGMR offen den Gehorsam. Auch Russland widersetzt sich dem EGMR, in lupenreinen Demokratien wie den Niederlanden, Belgien, der Schweiz gibt es intensive Debatten über die Autorität des EGMR. Ist das System glaubwürdig?

Wenn der Gerichtshof wie im Fall Hirst eine Schadenersatzpflicht festsetzt und diese nicht befolgt wird, verletzt das die Konvention und ist primär ein Problem der jeweiligen Regierung. Dennoch schwächen solche Akzeptanzdefizite auch in gewissem Maß die Glaubwürdigkeit des EGMR. Dieser muss sich fragen, ob er die Grenzen des staatlichen Ermessensspielraums, den viele Grundrechte eröffnen, immer ausreichend gewahrt hat. Auch Selbstkritik ist eine richterliche Tugend.

Gibt es Urteile, in denen sich der EGMR Ihrer Meinung nach zu stark ins gesetzgeberische Ermessen eingemischt hat?

Es würde zu kurz greifen, die Kritik an einzelnen Urteilen festzumachen. Wichtig ist, dass die Richterinnen und Richter sich immer wieder vor Augen führen, dass die Subsidiarität des Systems und damit der mitgliedstaatliche Ermessensspielraum wesentliche Faktoren des Konventionssystems sind.

Sehr umstritten ist die Judikatur zur Meinungsfreiheit. Die Große Kammer hat kürzlich die Schweiz verurteilt: Diese hätte die Meinungsfreiheit verletzt, weil sie den türkischen Nationalisten Doğu Perinçek wegen Leugnung der Morde an Armeniern verurteilt hatte. Fördert der Gerichtshof damit nicht extremistisches Gedankengut?

Nein. Die Meinungsfreiheit ist für den Gerichtshof ein hohes Gut, unabhängig vom Inhalt der Aussage. Ob es sich um eine sogenannte Genozidlüge handelte, hatte der Gerichtshof also gar nicht zu beurteilen. Er hat sich die Entscheidung auch nicht leicht gemacht, mit 10:7 Stimmen ist sie ziemlich knapp ausgegangen. Das zeigt, dass man auch eine andere Meinung vertreten kann. Richter müssen entscheiden – ob in die eine oder die andere Richtung, ist oft eine Abwägungsfrage.

Straßburg hielt die Meinungsfreiheit stets sehr hoch.

Ja, vor allem, wenn es um politische Zusammenhänge ging. Dem Gerichtshof ist es sehr wichtig, auch Meinungen zu schützen, die möglicherweise falsch sind, provokant, verletzend, schockierend oder beunruhigend. Auch extreme Äußerungen werden also geschützt, insbesondere, wenn sie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen. Es gibt nur wenige Ausnahmen, etwa für echte Hassrede und Verhetzung. Grundgedanke der EMRK ist, dass durch die Wahrung der Menschenrechte die Demokratie und die politische Meinungsbildung stabilisiert werden sollen, auch wenn diese kontrovers ist.

Rechnen Sie damit, dass der EGMR das Recht Homosexueller zu heiraten bald anerkennen wird? In der Entscheidung Schalk und Kopf gegen Österreich hat er Beziehungen zwischen Homosexuellen bereits als Familienleben anerkannt.

Das könnte durchaus einmal der Fall sein, prognostizierbar ist es aber nicht. Das Recht auf Ehe ist in Artikel 12 EMRK spezifisch geschützt und bezieht sich nach derzeitiger Judikatur nur auf die Ehe zwischen Mann und Frau. Der Gerichtshof orientiert sich in diesen moralpolitischen Fragestellungen aber sehr oft am europäischen Konsens – dieser kann sich im Lauf der Jahre ändern.

ZUR PERSON

Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Wienerin des Jahrgangs 1955, ist ab heute Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Kucsko-Stadlmayer kommt aus der Wissenschaft: Sie hat sich 1985 in Wien für Verfassungs- und Verwaltungsrecht habilitiert und wurde 1993 Universitätsprofessorin. 1995 bis September 2015 war sie auch Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.