Vertauschte Babys: Juristischer Horror

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Von Alimenten bis Schadenersatz. Der Fall der Verwechslung zweier Babys vor 25 Jahren in Graz wirft eine Vielzahl von Rechtsfragen auf, für die gesetzliche Regelungen und Präzedenzfälle fehlen.

Wien. Allzu viel ist noch nicht bekannt, aber was man weiß, ist heftig genug: Vor 25 Jahren sind in Graz – möglicherweise am LKH-Uni-Klinikum – zwei Mädchen nach der Geburt verwechselt worden. Zwei Frauen sind also in genetisch falschen Familien aufgewachsen. Der von der „Kleinen Zeitung“ aufgedeckte Fall wirft viele Rechtsfragen auf, für die gesetzliche Regelungen und Präzedenzfälle fehlen. „Die Presse“ hat mit Edwin Gitschthaler, Hofrat am Obersten Gerichtshof und einer der führenden Familienrechtler Österreichs, gesprochen und losgelöst vom konkreten Fall Antworten gesucht – juristisch „ein Horror“, sagt Gitschthaler.

1. In welcher familienrechtlichen Beziehung stehen die Töchter zu ihren Pflegefamilien?

In gar keiner. Sie sind die Töchter jener Frauen, von denen sie geboren wurden. Waren diese zum Zeitpunkt der Geburt verheiratet, sind die Töchter eheliche Kinder des ihnen noch fremden Paars. Sollte der betreffende Mann die Vaterschaft bloß anerkannt haben, hätte das nicht auf die aufgezogene Tochter gewirkt: „Ein allenfalls vorhandenes Anerkenntnis bezieht sich wohl nicht auf die Tochter, die damals nicht dabei war“, sagt Gitschthaler, „ein solches Anerkenntnis könnte über Antrag des Mannes für unwirksam erklärt werden.“

2. Wie kann der hinsichtlich der Abstammung korrekte Status der Töchter hergestellt werden?

Über das Personenstandsregister. „Kern unser aller rechtlichen Seins ist gewissermaßen die Geburtsurkunde“, sagt Gitschthaler. „Auf ihr baut alles auf.“ Das Register müsste, sogar von Amts wegen, korrigiert werden. Aber was passiert, wenn eine Tochter ihre wahre Mutter nicht findet? „Dann hätten wir ein Findelkind.“ Im Fall einer Erwachsenen könnte allerdings nicht mehr das Jugendamt einen Namen bestimmen; sie könnte wohl ihren bisherigen Namen behalten. Außer diesem, ferner dem Geburtsort und – so eruierbar – dem Geburtsdatum stünde darin nichts, die Felder für die Eltern blieben weiß.

3. Wie kann die genetisch falsche Situation zur rechtlich gültigen gemacht werden?

Methode der Wahl ist die Adoption: Sie saniert fast alles. Die unterhalts- und erbrechtlichen Bande zu den biologischen Eltern bleiben jedoch bestehen. Während der Anspruch auf Unterhalt bei adoptierten Erwachsenen eher keine Rolle spielt, sind diese doppelt erbberechtigt: sowohl gegenüber den leiblichen Eltern als auch gegenüber den Adoptiveltern. Voraussetzung für die Adoption ist selbstverständlich, dass alle direkt Beteiligten, also Töchter und Eltern, einverstanden sind. Und noch jemand: auch der Ehegatte oder eingetragene Partner des Wahlkindes, denn er könnte der Adoption widersprechen. Gitschthaler weist auch darauf hin, dass die Adoption vom Gericht zu untersagen ist, wenn ein „überwiegendes Anliegen“ eines leiblichen Kindes ihr entgegensteht, insbesondere dessen Unterhalt oder Erziehung gefährdet wäre. Das dürfte allerdings keine Rolle spielen, wenn Erwachsene adoptiert werden; sie brauchen ja in der Regel keinen Unterhalt mehr. Leibliche Kinder, die sich um eine Schmälerung des späteren Erbteils sorgen, sind machtlos: „Weitere Pflichtteilsberechtigte könnte der Vater auch zeugen, dagegen kann man sich nicht wehren“, sagt Gitschthaler.

4. Können die pflegenden Eltern den Unterhalt zurückfordern, den sie rechtsgrundlos geleistet haben?

Ja. Die Rückforderung gegenüber den leiblichen Eltern würde sich nach den Grundsätzen des Scheinvaterregresses richten, also jenes des Vaters, der für ein Kuckuckskind Alimente gezahlt hat. Gitschthaler: „Der Scheinvater kann vom tatsächlichen Vater den Unterhalt für das Kind verlangen.“ Der Regress ist aber doppelt gedeckelt: einerseits damit, wie viel der Scheinvater tatsächlich geleistet hat, andererseits damit, wie viel der wahre Vater nach seinen Verhältnissen hätte leisten können und müssen. Wenn er weniger vermögend ist als der Scheinvater, hätte er ja weniger Unterhalt gezahlt; daher ist die auszugleichende Bereicherung kleiner. Apropos Ausgleich: Die Bereicherungsansprüche der verwechselten Elternpaare bestehen wechselweise gegeneinander. Nur bei völlig gleich gelagerten Verhältnissen (Einkünfte, weitere Sorgepflichten, Entwicklung der Kinder, Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit usw.) würden sie sich auf null saldieren. „Ich möchte das nicht rechnen müssen“, gesteht Gitschthaler. Die Scheineltern könnten den Unterhalt theoretisch auch vom Kind selbst zurückverlangen (wie es ein Vater kann, der für ein Kind Alimente zahlte, das ohne sein Wissen bereits Geld verdient und selbsterhaltungsfähig ist). Wichtige Einschränkung: Was gutgläubig verbraucht ist (und nicht etwa sicher auf einem Sparbuch liegt), braucht nach der Rechtsprechung nicht zurückgezahlt zu werden (zum Ersatz durch das Spital s. gleich Punkt 5).

5. Wer kann vom Spital wie viel Schadenersatz verlangen, wenn die Verwechslung dort geschehen ist?

Wer nach 25 Jahren erfährt, die „falschen“ Eltern bzw. die „falsche“ Tochter zu haben, wird schockiert sein. Die Rechtsprechung behandelt schwere Schocks wie Körperverletzungen. Sie gesteht Geschockten Schmerzengeld und Schadenersatz etwa für Therapiekosten zu. Gitschthaler hält diese Judikatur auch hier für anwendbar. Die Höhe des Ersatzes hängt von der Reaktion des Einzelnen ab und könnte von wenigen tausend Euro bis in sechsstellige Beträge gehen, wenn etwa eine latente Grunderkrankung (z. B. Depression) ausbricht. Mütter schließen vor der Entbindung mit dem Spital einen Behandlungsvertrag. Dessen Schutzwirkungen erstrecken sich auch auf das Neugeborene und den Vater. Das erleichtert für sie alle die Durchsetzung von Ersatzansprüchen: Vorausgesetzt, die Schädigung im Spital ist erwiesen, müsste dieses nur dann nicht zahlen, wenn es seine Schuldlosigkeit (auch punkto Mitarbeiter, Organisation) beweisen könnte. Steht auch denjenigen Schadenersatz zu, die nur vorübergehend potenzielle Verwechslungsopfer sind, bei denen aber nichts passiert ist? Wohl kaum: Sie können sich nicht auf die Verletzung vertraglicher Pflichten durch das Spital berufen. Sehr wohl aber könnten wirklich verwechselte Eltern auch das Spital auf Zahlung des geleisteten Unterhalts (s. Punkt 4) klagen. „Die Ansprüche gegen die leiblichen Eltern und gegen das Spital bestehen aus unterschiedlichen Rechtsgründen nebeneinander“, meint Gitschthaler. „Die Beklagten haften wohl als Solidarschuldner.“

6. Kann eine suchende Tochter jemanden zwingen, sich einem DNA-Test zu unterziehen?

Ja. Hat die junge Frau Anhaltspunkte dafür, dass bestimmte Personen ihre Eltern sein könnten, dann kann sie ihren Status in einem Außerstreitverfahren zu klären versuchen. Die Antragsgegner im Verfahren sind dann grundsätzlich zur Mitwirkung verpflichtet.

7. Darf das Spital eine größere Zahl Menschen verunsichern, indem es über die Verwechslung informiert?

Es werde wohl müssen, meint Gitschthaler: „Es gibt auch nachvertragliche Verpflichtungen aus den damaligen Behandlungsverträgen.“ Das Spital muss aber den Datenschutz beachten und die Anonymität so lang wie möglich wahren.

ZUR PERSON

Edwin Gitschthaler,Salzburger des Jahrgangs 1960, ist seit 2005 Hofrat des OGH. Er ist einer der führenden Familienrechtler und sprach mit der „Presse“ abstrakt über Fragen zur Verwechslung von Babys.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)

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