Asyl und Umverteilung voneinander trennen

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Fluechtlingsunterkunft Rathaus Friedrichsdorf Friedrichsdorf Bild x von 12 Friedrichsdorf fuer LOimago/Michael Schick
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Hypertrophe Rechte? Die Stimmung richtet sich verstärkt gegen Flüchtlinge. Umso wichtiger ist es nun, Menschenrechte und Wirtschaftsimmigration nicht länger zu verquicken.

Innsbruck. In weiten Teilen Europas ist ein markanter Stimmungsumbruch in der Flüchtlingsfrage festzustellen. Die Ereignisse von Köln waren nur noch der zündende Funke für eine Entwicklung, die schon länger im Raum stand. Sind wir beim Schutz der Flüchtlinge zu weit gegangen?

Verfolgt man die Berichterstattung, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Noch dramatischer wird das Bild, wenn man sich die Meinungsblogs unter Onlineausgaben von Zeitungen ansieht. Diese Äußerungen pauschal als bloße Hetze von radikalisierten Kampfpostern (die es zweifellos auch gibt) abzutun geht an der Wirklichkeit vorbei. Auffallend ist, dass dabei die rechtliche Argumentation wenig interessiert, sondern es werden Ergebnisse verlangt, unabhängig, wie man dazu gelangen sollte.

Stehen Völkerrecht und Europarecht einer Beschränkung des Zustroms entgegen, so versuchen einige Juristen, diese Normen umzuinterpretieren – mit oft peinlichen Ergebnissen. Nahezu täglich liest man widersprüchliche Erkenntnisse von „Experten“: „Die Flüchtlingsobergrenze ist möglich“, „die Flüchtlingsobergrenze ist nicht möglich“, „die Flüchtlingsobergrenze ist nicht von vornherein unmöglich“ – Fortsetzung folgt.

Zweifelsohne muss auch die Politik lavieren zwischen der Einhaltung internationaler Verpflichtungen und dem Druck aus der Bevölkerung. Die Grundproblematik ist aber noch viel gravierender und reicht weit über Österreich hinaus. In den Menschenrechtswissenschaften ist seit geraumer Zeit ein Unbehagen feststellbar: Sind wir in den menschenrechtlichen Verbürgungen zu weit gegangen?

Kämen solche Befürchtungen von charakterlosen Souveränitätsapologeten, die – im Sold autokratischer Regierungen stehend – bereit sind, jedes gewünschte Ergebnis zu liefern, wären diese Befürchtungen nicht ernst zu nehmen. Es sind aber über jeden Zweifel erhabene Experten des internationalen Rechts und Menschenrechtsaktivisten, die solche Befürchtungen äußern.

Aufsehen hat etwa das Buch „The Dark Side of Virtue“ (2004) erregt, in dem David Kennedy die Sinnhaftigkeit diverser internationaler humanitärer Bestrebungen hinterfragt. Noch weiter geht Eric Posner in „The Twilight of Human Rights“. In diesem 2014 erschienenen Buch spricht der Autor wiederholt von einer „Hypertrophie der Menschenrechte“.

Politik differenzierte nicht

Daran wird man erinnert, betrachtet man die Situation in Europa: Ein vorbildhaftes Rechtssystem zum Schutz von Flüchtlingen und Asylwerbern droht zu zerbrechen, da es dem Massenansturm aus Nordafrika und dem arabischen Raum nicht gewachsen ist. Es sind keine Vorkehrungen getroffen worden, um dieses Regelwerk vor Missbrauch zu schützen. Selbst auf höchster politischer Ebene fehlte vielfach das Verständnis für eine Differenzierung zwischen Flucht und Migration. Es fehlte die Fähigkeit, eine Abwägung vorzunehmen zwischen der Notwendigkeit, echten Konventionsflüchtlingen Schutz zu gewähren, und dem Gebot, die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und die Zukunftsperspektiven der heimischen Bevölkerung zu wahren.

Über die Vermengung der Genfer Flüchtlingskonvention mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) entstand ein starkes Rechtsgebäude, das in vielem mit den Besonderheiten der EU-Integration, vor allem den Freizügigkeitsregeln und dem Schutz der Außengrenzen, nicht koordiniert war.

Besonders fatal hat sich der Umstand ausgewirkt, dass der europäische Integrationsprozess kein geplanter war, sondern schrittweise, geprägt von Rückschlägen und zum Teil utopischen Plänen vonstattengegangen ist, wobei nationale Egoismen eine koordinierte Vorgangsweise oft verunmöglichten. Das Ergebnis waren vielfach lückenhafte Konstrukte mit großem Anspruch, die sich in Schönwetterlagen wunderbar ausnahmen, in Krisen aber auch die umstehenden Säulen des Unionsrechts gefährdeten.

Haben wir den Zenit der Grundrechtsentwicklung überschritten, sollen wir trachten, dieses System zu konsolidieren oder sogar zurückzubauen? Keineswegs! Auch der Grundrechtsschutz in Österreich zeigt noch zu behebende Defizite. Problematisch sind aber jene Rechte, die mit Leistungsansprüchen verbunden sind. Jede Form von Grundrechtsschutz ist mit Kosten verbunden, doch die Unterschiede in der Höhe sind enorm.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass ein lückenhaftes, mit anderen Politikbereichen nicht oder nur unzulänglich koordiniertes Asylsystem zu untragbaren Kosten führen kann, die die Bevölkerung angesichts der einzigartigen Krisensituation vor den Toren Europas nicht länger zu schultern bereit ist. Asylfragen sind nicht länger allein Fragen der Innenpolitik, sondern eine zentrale Herausforderung für die Politik insgesamt, insbesondere in ihrer Außendimension.

Zu den Kosten dieses Systems zählen auch jene, die seiner Bestandssicherung dienen, also im konkreten Fall dem Schutz der Außengrenzen. Innerhalb der EU ist deshalb verstärkte Solidarität auch gegenüber Staaten wie Griechenland zu üben. Gleichzeitig ist international Solidarität einzufordern.

Die Verquickung von Menschenrechtsanliegen mit weltweiten Umverteilungsfragen (und nichts anderes ist die Wirtschaftsimmigration) gefährdet den Kernbestand des Menschenrechtsschutzes. Der gegenwärtige Flüchtlingsnotstand muss unmittelbarer Anlass sein, nicht nur die GEAS und die europäische Außenpolitik neu zu denken, sondern auch die Essenz des Flüchtlingsschutzes und die weitere Orientierung der Menschenrechte.

Nicht im Sinne ihrer Schwächung, sondern zu ihrer Stärkung durch eine klarere Trennung von internationalen wirtschaftlichen Fragestellungen. Der Menschenrechtsschutz an sich ist nicht hypertroph. Er wird es aber, wenn er mit Fragen vermengt wird, für die er nicht geschaffen worden ist.


Peter Hilpold ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2016)

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