Straftäter bessern, verletzte Ordnung schützen

(c) Clemens Fabry
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Vor 100 Jahren wurde Christian Broda (1916-1987) geboren. Eine Würdigung des langjährigen Justizministers und Rechtsreformers.

Der mitten im Ersten Weltkrieg geborene Christian Broda hat die Geschichte und vor allem den Untergang der Ersten Republik intensiv erlebt. Er hat die dramatischen Höhe- bzw. Tiefpunkte in sich aufgenommen und seine politische Heimat zunächst in der Sozialdemokratie und dann links von ihr gefunden. Die Tatsache, dass er der kommunistischen Ideologiezeitschrift „Weg und Ziel“ Ende der Dreißigerjahre unter dem Pseudonym JANDA eine Publikation unter dem Titel „Ziel und Weg“ entgegenzusetzen versuchte, zeigte seine Divergenzen mit der kommunistischen Orthodoxie, die durch sein Entsetzen über die sogenannten Moskauer Prozesse 1936 bis 1938 noch gesteigert wurden. Das fand auch in seinem intensiven Engagement für die Ungarische Revolution 1956 und gegen den sowjetischen Panzerkommunismus seinen Ausdruck.

Trotz allem empfand er die kommunistische Bewegung noch 1945 als unverzichtbares Element im Kampf gegen den Hitlerfaschismus. Erst einige Zeit später wandte er sich endgültig der Sozialdemokratie zu, die den erfolgreichen Rechtsanwalt 1957 in den Bundesrat, 1959 in den Nationalrat entsandte. 1960 wurde er von der SPÖ nach einer Kampfabstimmung als Justizminister nominiert.

Ich hatte mehr als ein Vierteljahrhundert das Privileg einer intensiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Broda, die mir viele Einblicke in seine Arbeitsweise und Denkweise ermöglicht hat. Die reiche Ernte an Reformen, die Broda verwirklichen konnte, wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht mit größter Energie, umfassendem Sachwissen und echter Reformbegeisterung für die Realisierung seiner Wertvorstellungen eingetreten wäre. Seine Reformziele waren über weite Strecken identisch mit denen der österreichischen Sozialdemokratie – und umgekehrt. Sie wurden aber auch aus zusätzlichen Quellen, wie z. B. dem Einfluss der liberalen Gedankenwelt gespeist.

Aufklärung und Marxismus

Zwei Prinzipien treten in seiner Weltanschauung in den Vordergrund: Er sah sich als Nachfahre und Fortsetzer der aus seiner Sicht auf halbem Weg steckengebliebenen Aufklärung und hielt die Reformziele der Jahre 1848 und 1867 in hohen Ehren; gleichzeitig war aber auch der Marxismus für ihn eine wichtige Quelle für zahlreiche Erkenntnisse und Einblicke in die gesellschaftliche Entwicklung.

So war er zugleich ein engagierter Liberaler und ein engagierter Kämpfer für eine klassenlose Gesellschaft: „Glauben Sie denn wirklich, dass eine Klassengesellschaft humaner und besser ist als eine klassenlose Gesellschaft?“, hielt er einem Journalisten entgegen, der Brodas Bekenntnis zur Überwindung von Klassenschranken kritisch hinterfragt hatte. Den Gleichheitsgrundsatz wollte er aber nicht nur formal im Sinne der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern im Sinne von Gleichheit durch das Gesetz verstanden wissen. Er trat für die soziale Demokratie ein, er wollte den staatsrechtlichen Rahmen der Demokratie – einschließlich Rechtsstaat – mit sozialen Veränderungen im Sinne von Chancengleichheit und gleicher Menschenwürde verbinden.

Broda trat entschieden der Auffassung entgegen, dass Vergeltung das leitende Prinzip des Strafrechts sein dürfe oder gar müsse. „Helfen, nicht strafen“ war sein zentraler Grundsatz. Das Strafrecht soll nur dann eingreifen, wenn andere Mittel versagen. Jedes Strafrecht muss ebenso die Besserung des Täters anstreben wie den Schutz der verletzten Ordnung.

Natürlich war sich Broda des Umstandes bewusst, dass die Gesellschaft vor Übeltätern geschützt werden muss und dass Verbrechensopfer Rücksichtnahme und möglichst auch Kompensation verdienen. Er war es ja, der 1972 das Gesetz über die Entschädigung von Verbrechensopfern durchsetzte. Auch der später eingeführte außergerichtliche Tatausgleich beruht auf seinen Vorstellungen. Aber die Strafe sah er gewissermaßen nur als Notlösung und ultima ratio. Eine ultima ratio, die leicht zur ultima irratio werden konnte – wie ganz besonders bei der Todesstrafe. Grundsätzlich gelte für das Strafrecht, dass Vorbeugung und Wiedergutmachung nützlicher und wirksamer sind als Strafen. Seine vielfach – zum Teil absichtlich und polemisch – missverstandene Vision von einer gefängnislosen Gesellschaft hat hier ebenso ihren Ursprung wie sein Eintreten für die Reduktion der Freiheitsstrafen und für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe.

Durch unglaubliche insgesamt neunzehn Jahre war Broda Bundesminister für Justiz, nämlich von 1960 bis 1966 und von 1970 bis 1983. Er war auch ein leidenschaftlicher Parlamentarier. „Demokratie heißt Dialog“, war eine von ihm häufig verwendete Redewendung. Demokratiereform und Reform des Wahlrechts, aber auch die Schaffung der Volksanwaltschaft waren weitere ihm wesentliche Anliegen. Nicht weniger wichtig war für ihn die Realisierung von Menschenrechten, insbesondere die Schaffung von sozialen Grundrechten.

Für soziale Grundrechte

Leider ist die Schaffung zeitgemäßer sozialer Grundrechte im österreichischen Bundesverfassungsrecht bis heute nicht gelungen. Mit einem Schuss Bitterkeit oder Ironie könnte man an dieser Stelle anmerken, dass manchen die Verankerung des Bargeldes in der Bundesverfassung offenbar wichtiger ist als die Verankerung sozialer Grundrechte. Aber immerhin enthält die Europäische Grundrechtecharta neben klassischen Freiheitsrechten auch einen Abschnitt mit der Überschrift „Solidarität“, der soziale Grundrechte betrifft.

In den letzten Jahren seines Wirkens wandte sich Broda besonders der Rechtsstellung von Flüchtlingen und Fremden zu. Vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates forderte er ein Maßnahmenpaket, das auf einer „Charta des demokratischen Europa für den wirksamen Schutz der Menschenrechte der Flüchtlinge und Gastarbeiter“ aufbauen sollte. Er forderte aber auch die Verankerung des Rechts auf Asyl für politische Flüchtlinge in der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Festschreibung europäischer Mindeststandards für Flüchtlinge und Ausländer. Er warnte davor, dass sich in diesem Zusammenhang eine neue Zweiklassengesellschaft bilden könnte: die von Inländern und von Fremden.

Wie aktuell doch diese Themen gerade heute sind!

Am 28. Jänner 1987 wurde Broda vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats der europäische Menschenrechtspreis verliehen. Ein letzter Höhepunkt in seinem Leben. Denn vier Tage später, am Sonntag, dem 1. Februar 1987, erlag Christian Broda völlig unerwartet einem Herzinfarkt. Auf seinem Grabstein stehen die Worte „Rechtsreformer – Europäer – Humanist – Visionär“. Treffender hätte man seine Lebensziele nicht zusammenfassen können.


Gekürzte Fassung einer Rede des Bundespräsidenten bei einem Symposium zu Brodas 100. Geburtstag vorige Woche in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2016)

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