Verspätungen werden für Fluglinien teurer

A passenger sits inside an empty hall at the Athens Eleftherios Venizelos airport during a 24-hour labour strike in Athens
A passenger sits inside an empty hall at the Athens Eleftherios Venizelos airport during a 24-hour labour strike in Athens(c) REUTERS (YIORGOS KARAHALIS)
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Bei Dienstreisen kann jetzt auch der Arbeitgeber Schadenersatz wegen Flugverspätungen verlangen. Die Beträge können die bisher vorgesehenen Entschädigungen an die Passagiere bei Weitem übersteigen.

Wien. Mit der im Februar ergangenen Entscheidung (C-429/14) sprach der Europäische Gerichtshof (EuGH) erstmalig einem Arbeitgeber Ersatz für Schäden zu, die diesem durch eine Flugverspätung seiner Mitarbeiter entstanden sind („Die Presse“ hat berichtet). Litauens Sonderermittlungsdienst hatte wegen einer 14-stündigen Verzögerung der Dienstreise seiner Mitarbeiter durch einen verspäteten Anschlussflug erhöhte Sozialversicherungsbeiträge und Diäten zu leisten und klagte diese Mehrkosten beim ausführenden Luftfahrtunternehmen Air Baltic ein.

Nicht auf Personen beschränkt

In einer Vorlageentscheidung hielt der EuGH fest, dass Art. 19 des Montrealer Übereinkommens (MÜ) den Luftfrachtführer verpflichte, jeden Schaden zu ersetzen, der durch Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern entsteht. Der Schaden sei also anhand des „schadensbegründenden Ereignisses“ beschrieben. Es erfolge jedoch keine Einschränkung hinsichtlich der Person, welcher ein solcher Schaden entstehen könne. Auch wenn das Übereinkommen nicht ausdrücklich die Haftung gegenüber einem Arbeitgeber vorsehe, lasse sich jedoch dem Text des MÜ nicht entnehmen, dass der zu ersetzende Schaden nur auf jenen eingeschränkt sei, den der Reisende selbst erleidet.

Es überrascht, dass ein derartiger Fall erst jetzt die Gerichte beschäftigt hat. Art. 19 MÜ ist von seinem Wortlaut her relativ eindeutig. Air Baltic argumentierte zwar damit, dass es erklärtes Ziel des Übereinkommens sei, Verbraucherrechte zu stärken und eine Haftung gegenüber anderen Personen als den Reisenden selbst, insbesondere wenn diese juristische Personen seien, nicht bestünde. Der EuGH sah aber – trotz der in der Präambel des MÜ festgehaltenen Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen – im Text des Übereinkommens weder ein zwingendes Zusammenfallen des Verbraucherbegriffs mit jenem des „Reisenden“ noch eine Einschränkung des Kreises der Ersatzberechtigten.

Für die Luftfahrt ist diese Entscheidung ein schwerer Schlag, da die Haftung für Flugverspätungen damit massiv ausgeweitet wurde. Waren bisher in der Regel nur die Ausgleichsleistungen gemäß der Fluggastrechte-Verordnung von bis zu 600 Euro pro Passagier zu zahlen, drohen bei Dienstreisen in Zukunft – zusätzlich – signifikante Ansprüche der Arbeitgeber. Zwar muss im Gegensatz zu den genannten Pauschalbeträgen laut Fluggastrechte-VO hier der konkrete Schaden nachgewiesen werden. Im Fall von erhöhten Diäten und Sozialversicherungsbeiträgen wird dies jedoch – wie im vorliegenden Sachverhalt – kein Problem darstellen.

Spannend wird sein, wie das Urteil von den nationalen Gerichten ausgelegt wird, wie „großzügig“ diese bei den entsprechenden Ersatzansprüchen sein werden. Neben den genannten Mehrkosten wären weitergehende Ansprüche des Arbeitgebers durchaus denkbar: Opportunitätskosten für die Zeit, die der Mitarbeiter auf dem Flughafen festsitzt, sowie unternehmerische Schäden, wie zum Beispiel Projektverzögerungen oder Schadenersatzansprüche von Kunden, die sich aus der Verspätung ergeben: Das sind nur einige mögliche Ansprüche, die in der Praxis allenfalls nachweisbar sein können.

5000 Euro pro Reisendem

Unabhängig davon, welche Ansprüche die Gerichte zusprechen werden, zündet schon die Kumulierung der Ansprüche potenziell ein Pulverfass. Insbesondere, da die Ersatzansprüche von Arbeitgebern in der Regel wohl empfindlich höher sein werden als die bisherigen. Die einzige Einschränkung, die vom EuGH getroffen wurde, ist die unter Berücksichtigung von Art. 22 MÜ gezogene Obergrenze von derzeit ca. 5000 Euro pro Reisendem. Diese gelte unabhängig davon, ob der Reisende selbst oder eine andere Person einen Schadenersatzanspruch einfordere. Ein schwacher Trost, wenn man sich im Vergleich die typischerweise zu zahlenden Ersatzleistungen bei Fluggästen ansieht. Auch eine Anrechnung einer allenfalls geleisteten Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechte-VO kommt nicht infrage, da diese nur hinsichtlich des Schadenersatzanspruchs des Fluggastes, nicht aber jenes eines Dritten möglich ist.

Den Fluglinien verbleibt im Gegenzug nicht einmal die Möglichkeit, dieses erhöhte Ersatzrisiko vertraglich zu beschränken, da ein Ausschluss oder eine Reduktion der jeweiligen Haftung ausdrücklich unzulässig ist (Art. 26 MÜ bzw. Art. 15 Fluggastrechte-VO). Einzig denkbare Lösung wäre allenfalls, bei der Buchung technisch sicherzustellen, dass jene Person, die das Ticket kauft, mit dem Reisenden ident sein muss, sodass es hier immer nur den Fluggast als Anspruchsberechtigten gibt. In der Praxis wird sich dies jedoch nur schwer umsetzen lassen, da so insbesondere Unternehmen letztlich vollständig von den Buchungssystemen ausgeschlossen wären. Auch der Benutzerfreundlichkeit bzw. Bedienbarkeit wäre dies natürlich keinesfalls dienlich. Von dem Verstoß gegen allfällige Kontrahierungszwänge und allfälligen arbeitsrechtlichen Problemen ganz zu schweigen.

Sollten also Arbeitgeber künftig vermehrt Schadenersatzansprüche bei Flugverspätungen anmelden, ist eine kurzfristige Lösung schwer denkbar. Insbesondere da den Airlines – zumindest vorerst – keine effektiven Möglichkeiten zustehen, diese Ausweitung der Ersatzverpflichtungen abzufangen. Zumindest für den europäischen Raum wurde möglicherweise ein Präzedenzfall geschaffen, der das Potenzial hat, die Passagierluftfahrt dramatisch zu beeinträchtigen.


Dr. Martin Klemm, LL.M. ist Partner bei Brenner & Klemm Rechtsanwälte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2016)

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