Faires Verfahren: Beschuldigter braucht Video von Vernehmung

(c) FABRY Clemens
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Das Oberlandesgericht Wien ordnet an, dass ein wegen eines Sexualdelikts Angeklagter Videokopien der Vernehmung der Belastungszeugen erhält: ein heikler Balanceakt zwischen Opfer- und Verteidigungsinteressen.

Wien. In einer aktuellen Entscheidung hat das Oberlandesgericht Wien in einer Sexualstrafsache der Beschwerde der Verteidigung Folge geleistet und angeordnet, dass dem Beschuldigten auf Antrag Videokopien der Vernehmungen der Belastungszeugen unter Auferlegung einer Geheimhaltungspflicht auszufolgen sind. Diese Entscheidung (33 Bs 40/16y) wirft schwierige Fragen im Spannungsfeld zwischen Verteidigungs- und Opferschutzinteressen auf.

Nach der alten gesetzlichen Regelung hatte der Beschuldigte kein Recht, Videokopien ausgefolgt zu bekommen. 2013 hat der Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit den Rapid-Hooligan-Prozessen dieses generelle Verbot wegen Verletzung des Fairnessgebots (Art 6 EMRK) für verfassungswidrig erklärt. Nach der neuen Regelung hat nunmehr der Beschuldigte das grundsätzliche Recht auf Ausfolgung von Videokopien. Ausnahmen gelten für verbotene Inhalte (Kinderpornografie) oder anonyme Zeugenaussagen. Soweit schutzwürdige Geheimhaltungsinteressen, z. B. des Opfers, bestehen, ist dem Beschuldigten eine Geheimhaltungspflicht aufzuerlegen.

Auch Nonverbales ist relevant

Trotz dieser neuen gesetzlichen Regelung, wonach (bis auf wenige Ausnahmefälle) dem Beschuldigten Videokopien der Zeugeneinvernahmen auszuhändigen sind, weigerte sich das Erstgericht, dies zu tun. Es argumentierte, dass die Verteidigung bereits die schriftlichen Protokolle erhalten hätte und die Videos „keinen zusätzlichen Beweiswert“ hätten. Diese Argumentation ist problematisch. Nur anhand des Videos kann nonverbales Verhalten analysiert und verlässlich überprüft werden, ob die Aussagen korrekt verschriftlicht wurden oder ob unzulässige Vernehmungstechniken zum Einsatz kamen.

Das Erstgericht äußerte aber auch berechtigte Befürchtungen, dass Videoaufzeichnungen, etwa über das Internet, an die Öffentlichkeit gelangen könnten. Medial wurde die Videofreigabe heftig kritisiert, weil nunmehr auch Sexualstraftäter Videos ihrer Opfer erhalten könnten.

Hier stellt sich tatsächlich die Frage, ob die Auferlegung einer Geheimhaltungspflicht an den Beschuldigten im Sinne des Opferschutzes ausreicht. Es muss bezweifelt werden, dass es dem Gesetzgeber gelungen ist, die in diesem Zusammenhang widerstreitenden Opferschutz- und Verteidigungsinteressen sorgfältig auszutarieren. Bei einer Verstärkung des Opferschutzes sollte allerdings darauf geachtet werden, dass nicht der Zugang der Verteidigung zu Beweisen als Kollateralschaden des Opferschutzes unverhältnismäßig beschränkt wird.

Gefahr falscher Anschuldigung

Gerade im Sexual- und Gewaltstrafrecht kommt es nicht selten zu falschen Anzeigen und Beschuldigungen, etwa im Zusammenhang mit Konflikten bei Scheidungs- und Obsorgeverfahren oder bei psychisch kranken Belastungszeugen, die unter einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung leiden. Man denke an den Fall Nicole Wolf, der mit einem Freispruch in einem Wiederaufnahmeverfahren nach sieben Jahren ungerechtfertigter Haft und einer Entschuldigung der Justiz endete. Gerade in solchen Fällen besteht die Gefahr von Fehlurteilen bzw. bereits im Vorfeld, dass Menschen noch vor einer Verurteilung zu Tätern erklärt werden, die in Wahrheit Opfer falscher Anschuldigungen sind.

Letztlich ist es eine rechtsstaatliche Notwendigkeit, in Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht und objektive Beweise fehlen, die Aussagen sämtlicher Beteiligter sorgfältig, auch anhand von Videomaterial, zu prüfen und zu beurteilen. Dadurch wird ein faires Verfahren gesichert und vermieden, dass Täter straflos davonkommen oder Unschuldige verurteilt werden.

In diesem Zusammenhang sollte auch die ablehnende Haltung der österreichischen Gerichte zu „Glaubwürdigkeitsgutachten“ durch Sachverständige, für die beispielsweise der deutsche Bundesgerichtshof bereits im Jahr 1999 wissenschaftliche Mindestanforderungen definiert hat, kritisch geprüft werden.


Die Autoren sind Partner der Brehm & Sahinol Rechtsanwälte OG. Am Verfahren beteiligt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2016)

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