Rechtsstaat darf sich nicht auf statistische Spielereien einlassen

VfGh-Chef Gerhart Holzinger (Mitte) verlas das Urteil.
VfGh-Chef Gerhart Holzinger (Mitte) verlas das Urteil.APA/HERBERT NEUBAUER
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Warum es bei der Wahlanfechtung nicht auf den Nachweis tatsächlicher Manipulationen ankommen kann - eine Verteidigung.

Souveräner hätte man mit diesem Jahrhundertfall nicht umgehen können: Die sachliche und überlegte Art und Weise, wie der VfGH die Anfechtung der Bundespräsidentenwahl behandelt hat, setzt Maßstäbe. Dieser Befund gilt unabhängig davon, wie man zum Ergebnis steht. Dass ein Kontrollmechanismus derart gut funktioniert und vorgebrachte Missstände transparent geklärt werden, ist vielmehr das Gütesiegel eines Rechtsstaates.

Dass bei der Stimmenzählung Vorschriften verletzt wurden, die Manipulationen verhindern sollen, war nach den ersten Zeugeneinvernahmen klar. Diese haben keinen Hinweis auf tatsächliche Manipulationen hervorgebracht. Nach der jahrzehntelangen Rechtsprechung des VfGH ist dies aber auch nicht nötig: Der Nachweis einer Rechtsverletzung genügt. Dass es tatsächlich Manipulationen gegeben hat, muss nicht dargetan werden.

Dies wurde im Verfahren mit dem Argument hinterfragt, man könne doch keinesfalls von mehr als 30.000Manipulationsvorgängen ausgehen, sodass klar sei, dass sich – auch bei Berücksichtigung der Mängel – kein anderes Ergebnis ergeben könne.

Was ist wahrscheinlich?

Vor dem VfGH kann es darauf freilich nicht ankommen. Denn man würde damit ein statistisches Wahrscheinlichkeitsmoment in die Beurteilung einfließen lassen, und der Prüfungsmaßstab würde völlig verschwimmen. Wenn, wie hier, 77.926 Stimmen von Mängeln bei der Auszählung betroffen sind: Bei welchem Anteil davon hält man eine tatsächliche Manipulation denn für möglich?

Zugegeben: Es bei allen 77.926 Stimmen anzunehmen, wäre lebensfremd. Aber welche Unschärfe darf in Kauf genommen werden? Eine solche von einem, zehn oder 25 Prozent, oder legt man gar das sonstige Ergebnis rechnerisch auf die kontaminierten Stimmen um? Dies wären etwas unter 50 Prozent gewesen. Genügt hätten übrigens weniger als 20 Prozent.

Auf statistische Spielereien darf sich ein Rechtsstaat nicht einlassen. Wenn hervorkommt, dass Manipulationen möglich waren, dann ist die Integrität der betreffenden Stimmen verletzt, und die Konsequenz kann nur sein, diese Stimmen aus der Bewertung auszuscheiden. Vom Anfechtungswerber zu verlangen, dass er tatsächliche Manipulationen in relevanter Anzahl nachweist, wäre vollkommen aussichtslos und ließe Anfechtungsverfahren leerlaufen. Und einen hypothetischen Wählerwillen darf der VfGH auch dann nicht annehmen, wenn dieser statistisch als „wahrscheinlich“ zu qualifizieren ist. So hat es der VfGH in Fortsetzung seiner bisherigen Rechtsprechung auch gesehen, und an der Richtigkeit dieser Ansicht kann keinerlei Zweifel bestehen.

Das Verfahren hat ergeben, dass die Wahlbehörde ab ca. 13 Uhr Ergebnisse an Medien übermittelt hat, um diesen zu ermöglichen, bereits unmittelbar um 17 Uhr die ersten Hochrechnungen zu präsentieren. Voraussetzung war nur die Verpflichtung dieser Medien, eine Sperrfrist bis 17 Uhr einzuhalten.

Vorab-Info lässt sich regeln

Eine Rechtsgrundlage für diese Vorgangsweise fand sich nicht. Auch auf die Frage, wie denn eine (durchaus vorkommende) Verletzung der Sperrfrist sanktioniert sei, wusste die Wahlbehörde keine Antwort. Zu Recht hat der VfGH daher festgestellt, dass dies den Grundsatz der Freiheit der Wahl verletzt. Denn anders als vielleicht vor Jahrzehnten, als mit dieser Praxis begonnen wurde, verbreitet sich jedes durchgesickerte Ergebnis über die heutigen sozialen Medien rasant im gesamten Bundesgebiet und kann – vor allem bei einem so knappen Ergebnis wie dem vorliegenden – für ein Drehen des Ergebnisses verantwortlich sein.

Damit ist nicht gesagt, dass die Vorab-Übermittlung von Ergebnissen für alle Zeiten kategorisch ausgeschlossen ist. Unter deutlich restriktiveren Voraussetzungen, wie etwa der strafrechtlichen Sanktionierung von Verstößen gegen die Geheimhaltungspflicht, ist vorstellbar, dass der Gesetzgeber die Datenweitergabe in ganz überschaubarem Rahmen erlaubt. Ein wenig hängt dies auch damit zusammen, dass es europaweit nur in Österreich keinen einheitlichen Wahlschluss gibt. Dann gäbe es vor 17 Uhr noch gar keine Auszählungsergebnisse, die leaken können.

Insgesamt definiert das Erkenntnis die Anforderungen an österreichische Wahlen neu und geht daher in seiner Bedeutung weit über das Anlassverfahren hinaus.

Dr. Michael Rohregger ist Partner der Rohregger Scheibner Bachmann Rechtsanwälte GmbH (am Verfahren beteiligt).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2016)

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